Danny Leder, Paris
Juden und Muslime in Frankreich:
Belastungsprobe für bereits heikle Koexistenz
Die höchsten Repräsentanten der Muslime und Juden in Frankreich reagierten geschlossen auf die Schandtaten des dschihadistischen Serienkillers Mohamed Merah. An der Basis, bei den jeweiligen Gläubigen, müsste so ein Schulterschluss noch organisiert werden.
Die Spitzenrepräsentanten der jüdischen und muslimischen Gemeinden Frankreichs traten aus dem Pariser Präsidentenpalais, in das sie Staatschef Nicolas Sarkozy geladen hatte, umarmten sich, nannten einander „Brüder und Schwestern“ und verkündeten einen gemeinsamen Schweigemarsch, zu dem sie auch die übrigen Franzosen aufriefen. Das war einen Tag nach dem Blutbad in der jüdischen Schule in Toulouse, als die meisten Franzosen noch einen Rechtsradikalen hinter den Morden vermuteten, der auf Juden, Muslime und Schwarze gleichermaßen wegen ihrer vorgeblichen Andersartigkeit Jagd machen würde.
Dass sich der Serienkiller schließlich als Anhänger von Al Kaida entpuppte und auf die „Kinder Palästinas“ berief, stellt Frankreich vor eine unvergleichlich schwerere innere Belastung. Nicht dass die Abscheu vor dem Kindertöter geringer wäre oder dass etwa Al Kaida über eine relevante Unterstützung unter Frankreichs Muslimen verfügen würde. Die Vertreter der Muslime trafen sich auch danach mit den jüdischen Gemeindespitzen und verurteilten den Mörder und Al Kaida mit allem nur denkbaren Nachdruck. Aber Frankreich laboriert nun einmal an einer hohen Zahl von Übergriffen von Jugendlichen aus muslimischen Familien gegen Juden. Vergleichsweise haben Juden in ihrem Alltag schon lange nicht mehr rechtsradikale Grüppchen zu fürchten, von denen es in Frankreich nur verschwindend wenige gibt - es sei denn, man rechnet das politische Umfeld des franko-afrikanischen Bühnenkünstlers Dieudonné M'bala M'bala, eines anti-jüdischen Hetzers der übelsten Sorte, der über eine gewisse Anhängerschaft in Migrantenvierteln verfügt, zur rechtsextremen Szene.
Insgesamt leben in Frankreich schätzungsweise eine halbe Million Juden und sechs Millionen Muslime - in beiden Fällen der höchste Anteil in Europa. Diese hohe Anzahl hängt mit Frankreichs Kolonialvergangenheit zusammen: Die Mehrheit beider Gruppen stammt familiengeschichtlich aus den französischen Ex-Kolonien in Nordafrika.
Der gemeinsame Ursprung sorgte und sorgt noch für Symbiosen. Muslime gingen früher, als es noch kaum organisierte islamische Schächtung gab, häufig in koschere Metzgereien und Wirtshäuser. Zwar gab es auch früher Spannungen und Zusammenstöße, etwa im Zuge des Sechstage-Kriegs 1967, als sich Juden und Muslime im Pariser Migrantenviertel Belleville Straßenschlachten lieferten. Aber damals standen sich etwa gleich starke Gruppen an jungen Juden und Muslimen gegenüber, während heute die Juden, deren Zustrom aus dem Maghreb versiegt ist, in diesen Vierteln hoffnungslos in der Minderzahl sind.
Inzwischen sind jüngere muslimische Generationen zwar als französische Staatsbürger herangewachsen, die aber, im Kontext der chronisch hohen Jugendarbeitslosigkeit Frankreichs, in etlichen Bereichen zu kurz kommen. Eine winzige, aber auffällige Minderheit unter ihnen bewegt sich an der Schnittstelle zwischen Jugendkriminalität und radikalen Islamparolen. Hetzergruppen entfalten eine intensive antijüdische Hasspropaganda. Der Nahost-Konflikt und Israels Besatzungspolitik in den palästinensischen Gebieten werden nicht nur mit verständlicher Anteilnahme verfolgt, sondern dienen als Verhaltensmuster für den Umgang mit jüdischen Nachbarn in Frankreich.
Ein Teil der Juden, die immer wieder in städtischen Randvierteln den Gewaltausbrüchen dieser Jugendlichen ausgesetzt sind, sucht seinerseits, vor allem für die Kinder, Schutz und Selbstachtung in eigenen konfessionellen Schulen. Die Identifikation mit Israel, das auch zur Zufluchtsstätte für die meisten Juden aus Nordafrika wurde, wächst.
Frankreich verfügt aber auch über eine lange und bewährte Integrationstradition rund um das Prinzip einer streng säkularen Republik, die als gemeinsamer Nenner für Menschen aller Ursprünge und Konfessionen noch immer halbwegs funktioniert. In fast allen Parteien arbeiten zahllose Juden und Muslime zusammen, zwischen Synagogen und Moscheen häufen sich Kontakte. Die Bereitschaft, dem Sog ins Unglück zu widerstehen, ist in allen Bevölkerungskreisen spürbar, sie muss aber ermutigt und organisiert werden.