Tobias Ebbrecht

Es gibt keinen Antisemitismus mehr

Yoav Shamirs Film stellt klar: Die Kritik des Antisemitismus wird missbraucht: von amerikanischen Juden, Israel und der "Holocaust-Industrie".

Der "Dokumentarfilm" Defamation gibt vor, der Frage nach dem aktuellen Antisemitismus nachzugehen. Der Regisseur Yoav Shamir begleitet dazu eine Gruppe israelischer Jugendlicher auf eine Reise nach Polen und schaut sich unter amerikanischen Juden um. Das Fazit des Films: es gibt keinen aktuellen Antisemitismus. Es gibt nur eine große Zahl von Menschen, die mit den Warnungen vor Antisemitismus ihr Geld verdienen - zum Beispiel amerikanische Jüdinnen und Juden, die in der Anti-Defamation League (ADL) organisiert sind. Und es gibt den Staat Israel, der seiner Jugend einredet, sie werde überall verfolgt und stehe einer bedrohlichen Welt voller Antisemiten gegenüber.


Der "Antisemitismus-Lüge" auf den Fersen

Auf seiner "Mission" besucht Shamir unter anderem die Redaktion der israelischen Tageszeitung "Yediot Achonot" und er wird skeptisch, als ein Holocaust-Überlebender ihn auf den fortexistierenden Antisemitismus in Europa hinweist. Woher kommen diese Zahlen, fragt sich der Filmemacher scheinbar unbefangen. Um das Gehörte zu überprüfen, fährt Shamir in die USA und trifft Vertreter der ADL. Deren Zahlen aber, so suggeriert der Film, basieren auf harmlosen Zwischenfällen: hier und da wird halt mal einem jüdischen Arbeitnehmer der rechtlich zustehende Urlaub an religiösen Feiertagen verweigert. Aber ist das gleich Antisemitismus, fragt Shamir sein Publikum. Das sei doch kein Grund zur Aufregung. Und auch als afroamerikanische Kids auf der Straße beginnen, von den "Protokollen der Weisen von Zion" zu schwärmen, schüttelt der Filmemacher bloß imaginär mit dem Kopf: Verrückt diese Jugendlichen, aber Antisemitismus scheint das für ihn nicht zu sein, nur "harmlose" Provokation.

Bestätigung für seine These, dass die antisemitische Bedrohung übertrieben wird, bekommt Shamir bei dem israelischen "Friedensaktivisten" Uri Avnery. Der sagt es frei heraus: Es gibt keinen Antisemitismus mehr. Man müsste ihn mit der Lupe suchen. Denn: den amerikanischen Jüdinnen und Juden geht es so gut wie nie. Und das kann auch Shamir aus eigener Erfahrung bestätigen und zeigt ausführlich die Mitglieder der ADL auf Staatsempfängen, bei Abendessen und repräsentativen Festivitäten - damit auch keine Zweifel aufkommen, wie "die Juden" heute in Amerika leben, während sie mit dem Antisemitismus Panikmache betreiben.

Schließlich führt - als Höhepunkt des Films gesetzt - Shamirs Mission ihn auch zu Norman Finkelstein, dem Autor des Buches "Die Holocaust-Industrie", in dem die These, die Jüdinnen und Juden und Israel profitierten moralisch und finanziell von der Erinnerung an den Holocaust und einem vermeintlichen "Schuldgefühl" der Welt publikums- und medienwirksam lanciert wurde. Natürlich aber wusste Shamir nichts von Finkelsteins "umstrittenen" Ruf. Woher auch? Der Filmemacher, der bereits mit Checkpoint und Flipping Out umstrittene Filme mit mehr oder weniger deutlich kritischer Botschaft über die heutige israelische Gesellschaft gemacht hat, möchte nur "nachfragen". Dazu lässt er Finkelstein ausgiebig zu Wort kommen und sich erklären, warum es für Israel das Beste wäre, wenn Israel endlich die amerikanischen Jüdinnen und Juden loswürde. Und dass Israel den Holocaust instrumentalisiere, um Kritik abzuwehren. Schließlich zeigt sich Finkelstein noch heiter-ironisch in der Pose des Hitlergrußes und befindet den Vergleich des Leiters der ADL mit Hitler eine Beleidigung für Hitler. Für Shamir scheinbar Ausdruck von Finkelsteins traumatischen Erfahrungen als Kind von Überlebenden der Shoah - zumindest evoziert der Film mehr Mitleid als Protest gegen diese Verharmlosung des Nationalsozialismus.


Die Opfer der "Holocaust-Pädagogik"

Während Shamir in den USA "das amerikanische Judentum" seziert, werden in Polen anscheinend israelische Jugendliche von ihren Begleitern mit Berichten über den aktuellen Antisemitismus in Panik versetzt und trauen sich aus Angst vor Antisemiten nicht mehr aus ihrem Hotel. Der Filmemacher vermittelt das mit ebenso eindruckvollen wie selektiven Bilddokumenten von Gedenkstättenfahrten israelischer Schüler und Schülerinnen. Für deren Empfindungen interessiert sich der Film dabei genauso wenig wie für den pädagogischen Sinn oder Unsinn solcher Fahrten. Darum hat er auch bewusst darauf verzichtet, israelische PädagogInnen oder GedenkstättenmitarbeiterInnen, die solche Jugendgruppen vorbereiten, zu ihren Erfahrungen zu befragen. Der Befund des Films ist eindeutig und entspricht der ideologischen Grundhaltung: den Jugendlichen werde unverantwortlicherweise eingeredet, sie seien überall und immer wieder Opfer. Dazu würden sie schließlich auch noch von ihren BegleiterInnen zu emotionalen Reaktionen auf Kofferberge und Kinderkleidung in der Gedenkstätte Auschwitz genötigt. Emotionale Regungen übrigens, die dem Filmemacher und seinem Film angesichts des Tatortes Auschwitz völlig äußerlich bleiben, was den Eindruck einer distanzierten und Erinnerung abwehrenden Haltung noch verstärkt.

Die Erinnerung an die Shoah ist Shamir auch offensichtlich nur Mittel zum Zweck. Denn indem er diese als rituell und emotionalisiert karikiert, hofft er ihre - von ihm als furchtbar wirkungsmächtig halluzinierte - Bedeutung für die fortdauernde Bekämpfung des Antisemitismus auch in seiner Form als vermeintliche "Israel-Kritik" "dekonstruieren" zu können. Der Film delegitimiert dazu systematisch jeden Versuch, den Antisemitismus zu bekämpfen und dessen fortdauernde Existenz zu kritisieren. Er macht damit auch gleich jeden Einspruch gegen seinen Film und dessen Argumentation unmöglich. Dieser nämlich fiele unter dieselbe Kritik wie jene antisemitismuskritischen Positionen, die der Film "aufdeckt" und diskreditiert. Defamation historisiert dazu den Antisemitismus, um ihn von der gegenwärtigen Situation abzuspalten. Islamismus oder das Regime im Iran und dessen Drohungen gegen Israel kommen darum gar nicht erst vor, genauso wenig wie der fortgesetzte Hass gegen Israel unter palästinensischen und arabischen ExtremistInnen. Der europäische Antisemitismus, der sich heute wesentlich als "Kritik" gegen Israel äußert, wird ebenfalls als israelische Einbildung vorgestellt. So wird die real existierende Bedrohung von jüdischen Menschen auf deutschen und österreichischen Straßen verleugnet und das gesellschaftsübergreifende Ressentiment gegen Israel verharmlost. Bei Organisationen, die mit der Bekämpfung des Antisemitismus in Europa seit Jahren beschäftigt und mit dem Phänomen bestens vertraut sind, hat Shamir lieber gar nicht erst nachgefragt, um keinen Riss in seinem monolithischen Weltbild zu riskieren. Das erstaunt, da neben dänischen und finnischen auch österreichische Förderanstalten den Film unterstützt haben. Das legt die Vermutung nahe, dass dieser dem Zweck dienen soll, den neuen Antisemitismus, der sich unmittelbar an die Feindschaft gegen Israel bindet, zu verharmlosen und seine Existenz zu bezweifeln. Damit reiht sich Defamation in die wohlwollende Aufnahme der "Schlussstrich-Polemik" von Avraham Burg ("Hitler besiegen") und die neuerlichen Versuche ein, die Gegenwart des Antisemitismus durch dessen Vergleich mit islamismuskritischen Positionen zu verharmlosen und Letztere damit zu diskreditieren. Dabei ist es beinahe müßig zu erwähnen, dass Defamation weder Antisemitismus erklärt, noch sich mit dem Israel-Hass wirklich auseinandersetzt. Da er nur jene jüdischen Organisationen zeigt, die davor warnen, erscheint das Problem wie eine Halluzination ohne reale Grundlage. Ein paar schlecht formulierte und aufgeregte Stellungnahmen werden dafür im Sinne einer Entlarvungsdokumentation im Stil von Michael Moore zusammengeschnitten.

Dass neben dem Zukunftsfonds der Republik Österreich auch eine Institution wie der Nationalfonds der Republik Österreich für die Opfer des Nationalsozialismus diesen Film unterstützt, sollte Fragen aufwerfen. Immerhin diskreditiert der Film mehrfach Überlebende der Shoah, verleumdet das Gedenken und stellt explizit am Ende den Sinn der Beschäftigung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit in Frage - um die Gegenwart des Antisemitismus zu vernebeln.


Tobias Ebbrecht arbeitet als Medienwissenschaftler in Potsdam und Berlin und forscht über die Darstellung von Holocaust und Nationalsozialismus in Film und Fernsehen.


« zurück