Monika Schwarz-Friesel (TU Berlin)
Ja, es gibt ein Klima der Angst und Einschüchterung!
Neuveröffentlichung mit freundlicher Genehmigung der Autorin, Erstveröffentlichung am 28. 7. 2020 auf: www.welt.de/kultur/article212380853/Antisemitismus-Ja-es-gibt-ein-Klima-der-Angst-und-Einschuechterung.html
60 Akademiker_innen aus Deutschland und Israel haben einen offenen Brief an die Bundeskanzlerin gesandt, in dem sie vor einer "Stimmung der Brandmarkung, Einschüchterung und Angst" warnen und die Arbeit des Antisemitismusbeauftragten, Felix Klein, kritisieren. Ein "inflationärer Antisemitismusbegriff" würde von diesem benutzt (wobei ausgeblendet wird, dass ebendiese IHRA-Arbeitsdefinition weithin in der einschlägigen Forschung und weltweit auch in vielen Parlamenten akzeptiert wird).
In der Tat, es gibt ein Klima der Brandmarkung, Angst und Einschüchterung! – unter Jüdinnen und Juden in Deutschland, die es trotz prompter Verbalattacken gegen sie noch wagen, gegen das aggressive antiisraelische Narrativ den Mund zu öffnen, und gegen Bürger_innen, die versuchen, Fakten gegen krude Meinungen zu setzen.
In der Tat, es gibt die Gefahr der Einschränkung von Meinungsfreiheit – denn proisraelische oder auch israelneutrale Stimmen werden entweder massiv diskreditiert oder kaum publiziert. Eine jüngst durchgeführte Umfrage zeigt, dass insbesondere freie Journalist_inn_en massiv unter diesem Trend zu leiden haben und dass sie Hassattacken in den sozialen Medien erdulden müssen, wenn sie sich proisraelisch/neutral artikulieren.
Dass nun der Antisemitismusbeauftragte in den Fokus der Diffamierungen rückt, hat seinen Grund: Man will politisch Einfluss nehmen auf die Arbeit der Bundesregierung, will eine opportune Richtung für die Nahostpolitik erzwingen, die jedoch am Ende nur der Delegitimierung des jüdischen Staates Tür und Tor öffnet. Damit wäre jedwedem Versuch, den virulenten Judenhass in Deutschland effektiv zu bekämpfen, ein Ende bereitet, denn im Hass auf Israel treffen sich seit Jahren alle Antisemiten, gleich welcher politischen oder ideologischen Ausrichtung. Über den israelbezogenen Antisemitismus strömt das uralte judenfeindliche Gedankengut in alle Bereiche der deutschen Gesellschaft, breitet sich dort aus und wird zur Normalität: Israelbezogener Judenhass ist mittlerweile der "politisch korrekte Antisemitismus". Mit legitimer Kritik an israelischer Politik hat diese Antisemitismusvariante rein gar nichts gemeinsam. Und von Unterdrückung solcher Kritik sind wir weit entfernt: Es vergeht kein Tag, an dem die Pläne der Netanjahu-Regierung nicht scharf und laut verurteilt werden. Es gibt kein Kritiktabu.
Was es jedoch gibt, ist eine höchst irrationale, geradezu obsessive Tendenz, den israelbezogenen Hass zu leugnen oder umzudeuten. Was ist an Äußerungen wie "Kindermörder-Unrechtsstaat-NS-Israel: Möge der Iran die Bombe werfen!", "Löst den jüdischen Staat auf!" oder "#Destroy-Israel" legitim? Solche Antisemitismen überfluten seit Jahren das Internet und basieren letztlich auf dem klassischen (und eliminatorischen) Antijudaismus. Auf der Straße hängen dann Plakate mit adaptierten "Stürmer"-Parolen wie "Israel ist unser Unglück!". Felix Klein hat lediglich das gemacht, wofür er eingesetzt wurde: gegen alle Formen des aktuellen Judenhasses vorzugehen. Dass der israelbezogene Antisemitismus die dominante Manifestation dabei ist, wird von allen empirischen Untersuchungen seit über zehn Jahren bestätigt. Er hat kein einziges Mal legitime rationale Kritik mit Antisemitismus gleichgesetzt. Notabene: Niemand von Sinn und Verstand tut dies!
Doch die "besorgten" Akademiker_innen verwechseln schlichtweg Nahostpolitik und Antisemitismusbekämpfung, was fatal und brisant ist. Und sie produzieren alternative Fakten zum aktuellen Judenhass, wenn sie die Gefahr nur rechts lokalisieren. Hätten sich die Unterzeichner_innen des Briefes einmal die Mühe gemacht, die Ergebnisse der einschlägigen datenbasierten Wissenschaft zu rezipieren, statt sich von realitätsblinden Affekten leiten zu lassen, wüssten sie, was für einen ungeheuren Schaden sie der Aufklärung gegen Judenhass antun. Si tacuisses!
Die Damen und Herren, die nun Herrn Klein zum Vorwurf machen, dass er seine Arbeit (richtig und gewissenhaft) gemacht hat, ignorieren jedoch systematisch die internationale Antisemitismusforschung. Sie betreiben eine besorgniserregende Kampagne. Wer noch einen Rest von Geschichtsbewusstsein, einen Funken von Anstand sowie Sachverstand und ein gewisses Quantum an Verantwortungsbewusstsein in Bezug auf jüdisches Leben in diesem Land hat und wer ernsthaft an Meinungsfreiheit interessiert ist, der sollte diesem unwürdigen Treiben energisch Einhalt gebieten.
Prof. Monika Schwarz-Friesel ist Antisemitismusforscherin an der TU Berlin. Als Expertin berät sie zahlreiche Institutionen im In- und Ausland, seit 2018 auch die Aktion "stopantisemitismus". Zuletzt erschien von ihr "Judenhass im Internet: Antisemitismus als kulturelle Konstante und kollektives Gefühl" (2019).