Ingrid Steiner-Gashi - 30.05.24

Ist es antisemitisch, ein Palästinensertuch zu tragen?

Pro-palästinensische Protest-Camps an Unis muteten zuweilen wie „antisemitische Volksfeste“ an, meint Karin Stögner. Die österreichische Soziologin, Expertin zum Thema Antisemitismus, über antisemitische Codes und wie Solidarität mit Palästinensern oft missverstanden wird.

KURIER: Wo beginnt Antisemitismus? Schon beim Wort “Israelkritik”?


Karin Stögner: Interessant ist, dass es das Wort Israelkritik überhaupt gibt, während es etwa Norwegenkritik oder Österreichkritik oder auch Ägyptenkritik nicht gibt. Israelkritik beinhaltet die Extrabedeutung, dass nicht die Regierung und nicht bestimmte Missstände im Land kritisiert werden, sondern die Existenz des Landes als solche.

Ist denn jegliche Kritik an Israel antisemitisch?

Oft ist zu hören, man dürfe Israel nicht kritisieren, weil man dann sofort unter Antisemitismusverdacht geraten würde. Dabei ist zu beobachten, dass kaum ein Land so sehr kritisiert wird wie Israel. Viele Leute, auch Akademiker, sagen oft: “Ich kenne mich mit dem Nahostkonflikt nicht aus”, aber dann haben sie doch eine feste Meinung dazu. Eine Meinung ist selten gut informiert über die historischen Hintergründe, über die tatsächlichen Gegebenheiten, über die tatsächliche Komplexität der Lage im Nahen Osten. Kritik an der Regierungspolitik Israels muss nicht, kann aber antisemitisch sein, wenn mit antisemitischen Codes gespielt wird, wie etwa, dass Israel „typisch jüdische“ Gier und Verschlagenheit an den Tag lege oder an den Palästinensern ähnliche Verbrechen begehen würde wir die Nazis an den Juden.

Israel als neokolonialen Siedlerstaat zu bezeichnen, ist eindeutig antisemitisch….

Es ist vor allem falsch und macht Juden und Jüdinnen zu Fremden in der Region. Das ist vor dem historischen Hintergrund absurd, grotesk und hanebüchen.

Wir wissen alle, dass sich das Judentum genau dort vor tausenden Jahren entwickelt hat. Diese Geschichte soll ausgelöscht werden – und das ist antisemitisch. Insofern ist der “Siedlerkolonialismus” ein Code, wonach sich ein westlicher Kolonialismus eine vorgeblich autochthone arabische Bevölkerung ausbeuten und verdrängen würde. Palästinenser seien dort heimisch, Juden hingegen nicht. Ignoriert wird zudem, dass 20 % der Israelis Muslime und Christen sind, und dass 50 Prozent der jüdischen Israelis aus arabischen Ländern stammen, aus denen sie vertrieben wurden.

Südafrika hat Klage vor dem Internationalen Gerichtshof eingereicht, es wirft Israel Genozid vor. Handelt Südafrika deswegen antisemitisch?

Zunächst: dieser Genozidvorwurf wurde vom Internationalen Gerichtshof nicht bestätigt. Die Richter und Richterinnen haben vielmehr gesagt, Israel müsse alles unternehmen, damit es zu keinem Genozid kommt. Der Genozid-Vorwurf ist eine Verleumdung, die durch ständige Wiederholung zu einer vorgeblich unbestreitbaren Tatsache gemacht wird. Das hat mit realen Fakten nichts zu tun. Das sieht man beispielsweise auch an den Uni-Protesten.

Apropos: sind denn die Proteste an den diversen Unis gerechtfertigt

An den Protesten fällt auf, dass sie hauptsächlich einen Israelhass propagieren und nur vordergründig solidarisch mit den Palästinensern sind. Das erkennt man daran, dass die Hamas nicht verurteilt und die Freilassung der Geiseln nicht gefordert wird.

Antisemitische Vorfälle

Die Israelitische Kultusgemeinde verzeichnete 2023 knapp 1.150 antisemitische Vorfälle. Das ist im Jahresvergleich ein Anstieg um 60 Prozent.

Die Hamas ordnet alles ihrer antisemitischen und frauenverachtenden Ideologie unter und will einen Gottesstaat errichten. Wenn sich Proteste im Westen nicht dagegen aussprechen, haben sie jede moralische Legitimität verloren. Es geht ihnen nicht um die Freiheit der Palästinenserinnen und Palästinenser.

Warum kommen die anti-israelischen Proteste gerade von den Unis?

An Unis gibt es seit Jahrzehnten eine Protestkultur und es gehört zur Identität von Studierenden, Universitäten als eine politische Institution zu sehen. Man sieht aber auch, dass viele Protestführer gar keine Studenten sind, dass die Uni also instrumentalisiert wird. Es kommt dabei zu zahlreichen antisemitischen Parolen: “From the river to the sea”; “Stoppt den Genozid!”, “Apartheidstaat”, “Zionisten sind Rassisten”, „Zionism is a crime“, „Intifada bis zum Sieg“. Zudem werden Hamas-Terrorsymbole verwendet, etwa rote Dreiecke, mit denen Feinde zum Abschuss freigegeben werden. Die Unis werden aufgefordert, wissenschaftliche Kooperationen mit israelischen Institutionen aufzugeben und israelische Wissenschaftler zu boykottieren, also die Wissenschaftsfreiheit massiv einzuschränken.

Man sieht bei vielen Protest-Teilnehmern ein eklatantes Unwissen um die reale Situation. Sehr viel wird einfach nachgeplappert. Es hat auch so was wie einen Eventcharakter, wenn man sich Bilder anschaut von protestierenden Studierenden, besonders an US-Campi, wo Mädchen in Spaghettiträger-Shirts öffentlich islamische Gebete vollführen. Das Ganze bekommt einen grotesken Sakralcharakter und hat etwas von Erlösungswahn. Von der Löschung Israels von der Landkarte – und nichts anderes bedeutet „From the river to the sea“ – wird die Erlösung der Welt abhängig gemacht. Es mutet wie ein antisemitisches Volksfest an. Der Israelhass ist dabei eine Integrationsideologie quer durch alle politischen Lager, feministisch, links, islamistisch, rechts, klimaaktivistisch - alle finden sich hier zusammen.

Was kann man fordern im Gazakrieg, ohne als antisemitisch zu gelten? Darf ich sagen: Ich möchte ein Ende der Kämpfe?

Alle vernünftigen Menschen wünschen sich ein Ende der Kämpfe. Das zu fordern ist nicht per se antisemitisch. Die Frage ist aber: Wie soll es dazu kommen? Und dazu gehört zu allererst die Forderung, dass die Hamas entwaffnet und die Geiseln in Gaza unverzüglich und bedingungslos freigelassen werden. Es kann nicht sein, dass Zivilisten völkerrechtswidrig in Gaza festgehalten werden und Israel währenddessen vorgeworfen wird, dass es das Völkerrecht breche.

Ein Palästinensertuch zu tragen - ist das auch ein Code für Antisemitismus?

Derzeit ist das ein Code für eine bestimmte Zugehörigkeit: man erklärt sich Palästina-solidarisch und israelfeindlich. Es wird getragen als Protest-Accessoire und hat mit einer tatsächlichen palästinensischen oder arabischen Tradition wenig zu tun. Im Grunde ist es kulturelle Aneignung, die da gemacht wird. Eigentlich halte ich nichts von diesen “kulturelle-Aneignung-Vorwürfen”: Aber wenn Frauen über bauchfreie T-Shirts eine Kufiya überwerfen, ignoriert das die realen Nöte von Palästinenserinnen komplett.

Man weiß gar nicht mehr, wofür oder wogegen man eigentlich protestiert. Und im Endeffekt ist es so, dass man damit die Geschlechterungleichheit im Gazastreifen und den exterminatorischen Antisemitismus der Hamas legitimiert. Man hängt sich dieses Tuch um und hat diese ganzen Codes beisammen.

Könnte man es nicht auch als Zeichen der Solidarität mit den Palästinensern sehen?

Damit ist man gar nicht solidarisch mit den Palästinensern und Palästinenserinnen, von denen selbst viele seit 16 Jahren unter dem Terror der Hamas leiden. Dort, wo jegliche politische Opposition unterdrückt wird, wo eine Geschlechterapartheid aufgerichtet wird, wo es das Ziel ist, einen islamistischen Gottesstaat zu errichten, wo schwule und lesbische Menschen verfolgt und umgebracht werden. Wenn man sich solidarisch mit Palästina erklärt und das nicht verurteilt, ist es keine Solidarität mit freiheitsliebenden, auf Emanzipation strebenden Palästinensern oder PalästinenserInnen, die es sehr wohl gibt.

Haben Sie eine Erklärung dafür, warum gerade junge Linke hier so einen blinden Fleck haben? Ist es Unwissenheit?

Ja, viel Unwissenheit. Die Widersprüche innerhalb der palästinensischen Gesellschaft werden ausgeblendet, weil sie das einheitliche Bild des Palästinensers als Opfer stören. Man braucht für den eigenen Protest eine Projektionsfläche, die ganz widerspruchslos gehalten wird, und die wiederum als heroisches Opfer gesehen wird, das sich auflehnt gegen westliche Unterdrückung. Es ist ein bestimmtes linkes, progressives Selbstverständnis, die Welt in unterdrückten Globalen Süden und imperialistischen Westen einzuteilen, und es entstehen so zwei einheitliche Blöcke. Konflikte innerhalb der Blöcke werden tendenziell ausgeblendet. Man stellt sich eindeutig auf eine Seite, und das sei die Seite des „antiwestlichen Guten“. In einem solchen Identifikationsprozess werden Palästinenser en bloc, also auch die Hamas und der Islamische Jihad, zu Opfern, die sich gegen einen westlichen Imperialismus auflehnen würden. Ihr Antisemitismus, so er überhaupt Erwähnung findet, wird irrigerweise nicht als ein Hauptgrund des Konflikts gesehen, sondern als ein „Aufschrei der Unterdrückten“.

Und Juden und Jüdinnen werden nicht mehr als Opfer wahrgenommen?

Das hat nach wie vor viel mit Verantwortungs- und Schuldabwehr gegenüber dem Nationalsozialismus zu tun. Juden und Jüdinnen werden in den Protestzusammenhängen nicht als Opfer von Antisemitismus wahrgenommen, sondern selbst zu Tätern gemacht. Was sich einschleicht, ist, dass man Juden und Jüdinnen für genauso schuldig halten möchte wie die Nazis. Es kommen unterschiedliche Dinge zusammen: Erstens hält man sich für progressiv und könne deshalb sowieso nicht antisemitisch sein. Zweitens sieht man den Hauptkonflikt auf der Welt zwischen dem Westen und dem globalen Süden – Israel steht dabei für den Westen. Und drittens kommt hier ein Schuldabwehr-Diskurs hinein, in dem man die westliche Schuld am Kolonialismus auf Israel projiziert. Israel kriegt alles ab, was die westlichen ehemaligen Kolonialstaaten an historischer Schuld auf sich geladen haben.

https://kurier.at/politik/ausland/antisemitismus-palaestinensertuch-gaza-krieg-kolonialismus-siedlerstaat/402904916

 

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