Können Linke antisemitisch sein?
"Als LinkeR kann man kein Antisemit sein". Dieser Satz, so richtig er als Norm und Kriterium ist, tendiert dazu, ein paradoxes Missverständnis hervorzurufen: dass nämlich die Selbstzuschreibung "Links" a priori gegen Antisemitismus immunisiere.
Im Windschatten aber einer berechtigten Kritik an der israelischen Politik meldet sich heute in der Linken ein offen antisemitisches Ressentiment zu Wort. So polemisierte Mitte August der österreichische Journalist, Werner Pirker, in der deutschen Tageszeitung junge Welt, mit Oskar Lafontaine, weil dieser die Anerkennung des Existenzrechts sowohl eines palästinensischen wie eines israelischen Staates fordert. "Feige" (!) sei eine solche Position, meint er, denn "niemand wäre je auf die Idee gekommen, die Solidarität mit der indigenen Bevölkerung Südafrikas an eine Anerkennung des Apartheidregimes durch den ANC zu knüpfen."
So absurd, wie es ist, Scheich Nasrallah und Nelson Mandela zu vergleichen, ist die behauptete Analogie insgesamt. Im Falle Südafrikas hielten fünf Millionen Weiße 35 Millionen Farbige in einem "gemeinsamen" Staat gefangen. Im Fall Israels leben fünf Millionen Menschen in ihrem eigenen Staat so groß wie Niederösterreich, umgeben von vier, bzw. früher oder später, fünf arabischen Staaten. Wenn sich irgendein Sinn aus dem jetzigen Krieg ableiten lässt, so der, dass es für die Völker der Region keine Alternative dazu gibt, die Bedingungen ihres friedlichen Zusammenleben auszuhandeln.
Doch um Faktisches geht es bei der Analogie gar nicht, sondern nur um die antisemitische Behauptung, dass der israelische Staat als solcher, weil er Israel ist, strukturell friedensunfähig sei. Nicht eine bestimmte Politik, sondern seine schiere Existenz sei es, die die Region vergifte.
Befriedigung am rechten Rand
Ein anderer Star der "anti-imperialistischen" Szene in Wien, Michael Pröbsting, nimmt sich nun auch kein Blatt mehr vor den Mund und fordert in einer Rede die endgültige Lösung des Problems: "Frieden kann es nur dann geben, wenn ein für alle Mal [!] Schluss gemacht wird mit dieser staatlichen Unterdrückungsmaschinerie namens Israel." Was mit den Menschen, die diese "Maschine" bilden, zu geschehen habe, soll gemäß der "anti-zionistischen" Logik offenbar Hamas und Hisbollah überlassen werden. Meine also niemand, man könne nicht wissen, wo der Diskurs hinzielt. Begreiflich ob derartiger Tiraden ist die Befriedigung am rechten Rand.
Das Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstands zitiert in diesem Zusammenhang die Homepage eines bekannten Rechtsextremisten, die über eine "eindrucksvolle Demonstration am 28. Juli in Wien" berichtet. Als besonders erfreulich wird dort "die eindeutige Positionierung der meisten Redner auf der Seite der Hizbullah" vermerkt, "die sowohl bei den Teilnehmern aus dem linken antiimperialistischen Spektrum wie bei den zahlreichen arabischen Jugendlichen auf große Zustimmung gestoßen ist".
Im Unterschied zur Sympathie der Rechten kann man über die an Tolerierung grenzende Taubheit, mit der ein Teil der Linken den Antisemitismus an seinen Rändern übergeht, nur staunen. Nicht einmal das Entsetzen über die israelische Kriegsführung vermag dies restlos zu erklären. Hier drängt offenbar an die Oberfläche, was seit langem im Verborgenen sprießt.
"Internationalisten, Akademiker - und Juden"
Leopold Spira, Intellektueller, der die Kommunistische Partei im Zuge der parteiinternen Auseinandersetzungen Ende der 60er-Jahre verlassen hat, schildert in seinem Essay, "Antisemitismus in Österreich" eine Episode aus der Frühgeschichte der Sozialdemokratie. 1915 qualifizierte Engelbert Pernersdorfer von der Tribüne eines Parteitages aus seine Opponenten als "Altinternationalisten, ein Häuflein von Akademikern, die einen festen Klüngel bilden, der sich anschickt, die Zügel der Parteiregierung zu ergreifen". Aber dieses "Häuflein", fasste er zusammen, bestehe "nicht nur aus Akademikern, sondern ausschließlich aus Juden". (Spira, 1965: 29)
Die Assoziationskette - "Internationalist" "Klüngel", "Akademiker" ... und "Jude" - entfaltete in der Arbeiterbewegung noch Jahrzehnte später ihre demoralisierende Wirkung: als politische Waffe gegen den Kommunismus, der als jüdisch gebrandmarkt wurde, gegen den "arroganten Juden", Otto Bauer, bei der Behinderung der Heimkehr politischer Emigranten wie Bruno Kreisky und in der Hand Franz Olahs, im Kampf mit Bruno Pittermann.
Anders als in der Sozialdemokratie gestaltete sich das Verhältnis der KPÖ zur jüdischen Bevölkerung. Schon in der Gründungsperiode hatten Jüdinnen und Juden, Franz Koritschoner, Ruth Fischer, Leo Rothziegel und andere, eine wichtige Rolle gespielt. Als die KPÖ 1938 als einzige Partei zum Widerstandskampf gegen die Nazis aufrief, gewann sie zudem eine beträchtliche jüdische Anhängerschaft.
Anders als die SPÖ bemühte sich die KPÖ nach der Befreiung auch um eine rasche Rückkehr ihrer jüdischen EmigrantInnen, die sie vor allem beim Aufbau der Jugendorganisationen, des Wirtschaftsapparats und der Parteipresse einsetzte.
Helga Embacher würdigt in ihrem ausgezeichneten Buch den maßgeblichen Anteil kommunistischer Juden an der Gründung der Israelitischen Kultusgemeinde (Embacher, 1995: 37). Noch in meiner Kindheit erlebte ich die sich überschneidenden kommunistischen und jüdischen Milieus. Man fuhr mit dem KZ-Verband in die Ferienaktion, ging in die Stubenbastei aufs Gymnasium und traf sich verlässlicher als zu Chanukka oder Purim beim Volksstimmefest.
Antisemitismus sei der KPÖ, schreibt Leopold Spira, von außen eingeimpft worden. (Spira, 91: 285) Kritiklos hatte etwa die Parteiführung die "Säuberungen" und politischen Prozesse in Osteuropa zur Kenntnis genommen, die wie im Fall Slansky antisemitisch unterfüttert waren. Noch wenige Wochen vor Stalins Tod 1953 erschien in der Volksstimme ein Artikel, in dem die "zionistische Agentur des US-amerikanischen Imperialismus" beschuldigt wurde, die Ermordung der sowjetischen Führung geplant zu haben. Das Schweigen zu den antisemitischen Kampagnen im Osten und schließlich die 1956 parallel mit der Sowjetunion vollzogene Wendung in der Politik gegenüber Israel erleichterten es, die KPÖ auch in der jüdischen Öffentlichkeit zu marginalisieren.
Mit dem 6-Tage-Krieg kam es 1967 zu einem weiteren politischen Bruch, nicht zwischen Jüdinnen/Juden und Nichjüdinnen/Nichtjuden in der KPÖ, wie Spira schreibt, sondern zwischen Kräften, die einen eigenen unabhängige Standpunkt zu den Ereignissen einnehmen wollten, und jenen, die sich kritiklos der sowjetischen Position anschlossen.
Antiintellektualistische und antisemitische Ressentiments
In der Kontroverse, die die Niederschlagung des Prager Frühlings in der KPÖ auslöste, wurden die Schleusen ein zusätzliches Stück weit geöffnet. Leopold Spira merkt an, dass die vier prominenten ZK-Mitglieder, die auf dem 20. Parteitag entlang einer unter der Hand verbreiteten Schwarzen Liste abgewählt wurden, "jahrzehntelange Parteimitglieder - und Juden" gewesen seien. (Spira, 1991: 288). Welche Rolle antijüdische Gefühle dabei tatsächlich gespielt haben, führt Spira nicht aus und ist in diesem Zusammenhang sogar zweitrangig. Wichtig erscheint mir - auch aufgrund der eigenen Erfahrung - Folgendes: Der in der damaligen Auseinandersetzung zur Stigmatisierung benützte Vorwurf des "Revisionismus" eignete sich in seiner Unbestimmbarkeit und deshalb Offenheit für unterschiedliche Zuschreibungen ausgezeichnet dazu, antiintellektualistische und antisemitische Ressentiments anzurufen, ohne dass das Wort "Jude" selbst ausgesprochen werden musste. In der persönlichen Zuspitzung verdichtete er die von Pernersdorfer in der Arbeiterbewegung eingeführte Assoziationskette (Kosmopolit, Intellektueller, Klüngel ...) in ein einziges Wort, das im dogmatischen Kommunismus Anklage und Urteil in einem darstellt: "Revisionist".
Erst Anfang der 90er-Jahre wurde der KPÖ bewusst, wie groß der Schaden war, den sie sich durch den internen Sieg über den "Revisionismus", das heißt die Austreibung eines Großteils der jüdischen Intelligenz und zahlreicher WiderstandskämpferInnen selbst zugefügt hat. Und sogar diese späte Selbsterkenntnis rief neuerlich die alten Streiter gegen den "Revisionismus" auf den Plan, diesmal allerdings erstmalig ohne den erwarteten Erfolg.
Gelernt werden kann, dass der Antisemitismus in seiner Wirkung keineswegs nur auf die finsterste Periode der österreichischen Zeitgeschichte zwischen1938 und 1945, und auch nicht ausschließlich auf das rechte Segment der politischen Landschaft beschränkt blieb, sondern sich über die Jahrhunderte tief in die Kultur des Landes eingeschrieben hat. So bleibt er weiterhin und universell aktivierbar. Für diejenigen, die die derzeitige Politik Israels verurteilen, besteht daher umso mehr Bedarf an Wachheit und Wachsamkeit.
Vor allem müsste aber der Satz, man könne als Linker nicht Antisemit sein, neu formuliert und zugespitzt werden: Man hört als Antisemit ganz sicher auf, ein Linker zu sein!
Literatur:
Leopold Spira, Antisemitismus in Österreich, Weg und Ziel, Sondernummer, Wien 1965
Leopold Spira, Antisemitismus in der KPÖ, Wien 1991
Helga Embacher, Neubeginn ohne Illusionen. Juden in Österreich nach 1945, Wien 1995