"Wiener Erklärung zur Bekämpfung des Antisemitismus" verabschiedet
Der Wiener Gemeinderat hat nach mehrjähriger Vorbereitung Ende Jänner 2015 einstimmig einer Resolution gegen den Antisemitismus verabschiedet. Obwohl sich die "Wiener Erklärung zur Bekämpfung des Antisemitismus" "gegen alle Form von Antisemitismus" richte, will die FPÖ das Problem in bewährt projektiver Manier ausschließlich bei muslimischen MigrantInnen festgemacht wissen. So behauptete der Wiener FPÖ-Abgeordnete David Lasar in einer Aussendung, dass das Anwachsen des Antisemitismus in Europa "heute vom islamischen Raum" ausgehe und sich "rasant unter den in Europa lebenden Muslimen" verbreite. (Zum freiheitlichen Antisemitismus vgl. Andreas Peham, Die zwei Seiten des Gemeinschaftsdünkels. Zum antisemitischen Gehalt freiheitlicher Identitätspolitik im Wandel, in: Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft, 39. Jg. (2010) H. 4, S. 467-481, aktualisierte Version »)
Die Wiener Erklärung zur Bekämpfung des Antisemitismus:
Beschluss- (Resolutions-) Antrag
der GemeinderätInnen Dipl.Ing. Rudolf SCHICKER, Peter FLORIANSCHÜTZ, … (SPÖ), David ELLENSOHN, … (GRÜNE) sowie Dkfm. Fritz AICHINGER und Dr. Wolfgang ULM (ÖVP) betreffend eine "Wiener Erklärung zur Bekämpfung des Antisemitismus", eingebracht zu Post 16 in der Sitzung des Wiener Gemeinderates am 29. Jänner 2015
Unsere historische Verantwortung
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war Wien mit 180.000 Jüdinnen und Judeneines der Zentren der jüdischen Kultur in Europa. Viele Jüdinnen und Juden, die aus allen Teilen der Monarchie nach Wien zogen, bereicherten das österreichische Geistes- und Wirtschaftsleben. Namen wie Alfred Adler, Marianne Beth, Anna und Sigmund Freud, Theodor Herzl, Karl Kraus, Karl Landsteiner, Lise Meitner, Karl Popper, Liane Zimbler und viele andere mehr sind untrennbar mit Wien verbunden. Auch Literatur, Theater, Film, Fotografie und Kabarett wurden maßgeblich durch jüdische KünstlerInnen wie Trude Fleischmann, Fritz Grünbaum, Ruth Klüger, Fritz Kortner, Cissy Kraner, Hedy Lamarr, Gustav Mahler, Max Reinhardt, Maria Schell, Arthur Schnitzler, Arnold Schönberg, Hilde Spiel, Otto Tausig, Helene Thimig, Hugo Wiener oder Bertha Zuckerkandl geprägt.
Allerdings war Wien bereits gegen Ende des 19. Jahrhunderts eine der wesentlichen Wirkungsstätten des religiös, des politisch und auch des rassisch motivierten Antisemitismus. Nach dem so genannten Anschluss Österreichs und dem Beginn des nationalsozialistischen Terrors 1938 wurde das kulturell reiche Leben der drittgrößten jüdischen Gemeinde Europas nahezu ausgelöscht. Die Jüdinnen und Juden sahen sich ihrer Existenz und ihres Besitzes beraubt. 120.000 Personen wurden zwischen 1938 und 1945 vertrieben, mehr als 60.000 österreichische Jüdinnen und Juden fielen der Shoa zum Opfer und wurden ermordet. Aus dieser Geschichte und der Mittäterschaft vieler Österreicherinnen und Österreicher, Wienerinnen und Wiener erwächst uns - der Menschenrechtsstadt Wien - eine ganz besondere Verantwortung gegenüber dem Judentum, weil von hier aus Unrecht ausging.
Heute - 70 Jahre nach der Befreiung
Siebzig Jahre nach dem Ende der nationalsozialistischen Diktatur ist das jüdische Leben wieder ein selbstverständlicher Bestandteil unserer Stadt geworden. Synagogen und Gebetshäuser, jüdische Kindergärten und Schulen, die langjährige Subvention zur Erhaltung und Sanierung der jüdischen Friedhöfe, aber auch zahlreiche andere soziale und kulturelle Einrichtungen dokumentieren dies auf eindrucksvolle Weise.
Die Stadt Wien kommt ihrer Verantwortung im Kampf gegen Antisemitismus weiterhin mit vielfältigem, aktiven Engagement nach, etwa auch durch die konsequente Fortsetzung der Förderung von Erinnerungskultur oder mit dem Fest der Freude am Wiener Heldenplatz am 8. Mai jeden Jahres, der Umsetzung des "Washingtoner Abkommens" mit seinen Bestimmungen zur Sanierung der Jüdischen Friedhöfe und zur Restitution, oder auch durch Unterstützung von Vermittlungsinitiativen zivilgesellschaftlicher und bewährten Einrichtungen, wie z.B. des Dokumentationsarchivs des Österreichischen Widerstandes, des Jewish Welcome-Service, des Mauthausen-Komitees.
Darüber hinaus fördert die Stadt Wien jüdisches Kulturleben in vielfältiger Hinsicht, etwa auch durch das Jüdische Museum Wien, das sich sowohl der Tradition als auch der Moderne widmet.
Trotz dieser erfreulichen Entwicklung stellt der Antisemitismus weiterhin ein ernst zu nehmendes gesellschaftliches Problem dar. Jedes Jahr werden leider auch in Wien Straftaten begangen, die sich explizit gegen Jüdinnen und Juden richten. Im Jahr 2013 wurden laut österreichischem Verfassungsschutzbericht 27 antisemitische Straftaten registriert.
Angesichts der immer noch stark verbreiteten antisemitischen Vorurteile,
angesichts der antisemitischen Hetze im Internet sowie des Fortbestandes antisemitischer Klischees im öffentlichen Diskurs und in manchen Medien,
angesichts des fast vergessenen Konzentrationslagers Mali Trostinec, dem Lage in dem die meisten Opfer aus Wien ermordet wurden und besonders
angesichts der 70. Wiederkehr des Tages der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau am 27. Jänner 1945, dem größten Vernichtungslager des NS-Regimes, in dem etwa 1 Million Jüdinnen und Juden ermordet wurden,
ist es unsere Pflicht, den Ursachen und Symptomen des Antisemitismus mit noch stärkerem Engagement zu begegnen. Denn Antisemitismus bedroht Jüdinnen und Juden ganz konkret und stellt die grundlegenden Werte unserer Demokratie, der Vielfalt sowie der Achtung und Wahrung der Menschenrechte in Frage.
Die gefertigten GemeinderätInnen stellen daher gemäß § 27 Abs. 4 der Geschäftsordnung des Gemeinderates der Stadt Wien folgenden
Beschluss- (Resolutions) Antrag
Gemäß dem Beschluss des Wiener Gemeinderates vom 7. September 2012, eine Wiener Erklärung zur Bekämpfung des Antisemitismus zu erarbeiten, erklärt der Wiener Gemeinderat:
Der Wiener Gemeinderat verurteilt entschieden alle Formen von Antisemitismus.
Jedwede Hetze gegen Jüdinnen und Juden kann und wird in Wien nicht hingenommen werden. Jüdinnen und Juden und das jüdische Leben in Wien stehen unter dem Schutz und genießen die besondere Fürsorge von Stadt und Land Wien.
Der Wiener Gemeinderat ruft deshalb alle demokratischen Kräfte und die Bürgerinnen und Bürger Wiens auf, Antisemitismus in jeder Form auf das Schärfste entgegenzutreten.
Unterschiedliche Meinungen und Einschätzungen zur Lage in anderen Regionen der Welt dürfen zu keiner Dämonisierung und Delegitimisierung von Juden bzw. ihrer Institutionen führen.
Die Verfassung und die Gesetze der Republik Österreich sind die Grundlage des friedlichen gemeinsamen Lebens in Wien. Die dort verankerten Strafbestimmungen gegen jede Form von Hetze sind im Falle von Antisemitismus anzuwenden und wenn nötig zu verschärfen.
Der Wiener Gemeinderat verpflichtet sich, jeder Form des Antisemitismus schon im Entstehen mit großer Entschlossenheit zu begegnen und das jüdische Leben in Wien zu unterstützen und zu schützen.
Der Wiener Gemeinderat beschließt dazu folgende konkrete Maßnahmen:
- Ein Monitoring des Antisemitismus
Es wird von der Stadt Wien ein ExpertInnengremium aus WissenschaftlerInnen und PraktikerInnen eingerichtet und beauftragt, Empfehlungen zu geben, wie Programme zur Bekämpfung von Antisemitismus weiterentwickelt werden können. Dabei ist auf die Einbeziehung zivilgesellschaftlicher Strukturen und bewährter Einrichtungen aus Forschung, Lehre und Vermittlung Bedacht zu nehmen (z.B. das neue Simon Wiesenthal Institut, das Ludwig Boltzmann Institut, die Universität Wien, das Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstandes, die Aktion gegen den Antisemitismus, die IKG usw.). Dieses ExpertInnengremium wird eng mit Stellen zur Bekämpfung von Antisemitismus zusammenarbeiten und sie bei ihrer Tätigkeit beraten. - Ein Netzwerk gegen den Antisemitismus
Öffentliche Einrichtungen werden sich verstärkt speziellen Aufgaben widmen und als Netzwerk gegen den Antisemitismus zusammenwirken. Solche Aufgaben wären etwa
- Bildungspläne und Bildungsmaterialien in Bezug auf Antisemitismus zu überprüfen und um Themen zur jüdischen Geschichte und zum jüdischen Leben in Wien zu erweitern,
- PädagogInnen gegenüber Antisemitismus in Sprache und Schrift zu sensibilisieren,
- Sport- und Fanvereine zu Aktivitäten und Aktionen gegen Antisemitismus im Sport zu motivieren
- und auch die MitarbeiterInnen der Landespolizeidirektion - auch schon im Zuge ihrer Ausbildung - zum Thema Antisemitismus zu schulen, zu informieren und zu sensibilisieren.
In formeller Hinsicht wird die sofortige Abstimmung verlangt.
Wien, 29. Jänner 2015