Anton Pelinka
Was mich zornig macht
(Aus: "Die Presse", Print-Ausgabe, 19. 09. 2009, Vorabdruck aus der politischen Autobiographie "Nach der Windstille", die gerade bei Braumüller erscheint.)
Das Verhalten von Juden wird an besonderen Maßstäben gemessen. Der Mord an Muslimen ist nur dann Anlass für moralische Empörung, wenn er Juden zugeschrieben werden kann - und nicht, wenn die Täter die Uniform der syrischen Armee oder libanesischer Milizen tragen. Aus 30 Jahren Israel-Erfahrungen.
Nach Israel kam ich das erste Mal 1980. Ich hielt Vorträge an israelischen Universitäten - über das Österreich der Zweiten Republik. Ein Vortrag fand vor der Israelisch-Österreichischen Gesellschaft statt. Im Saal waren vor allem Menschen, die Österreich vor oder nach dem Holocaust verlassen hatten. Ich war beschämt, dass sich diese Gruppe - sicherlich nicht repräsentativ für die generelle Meinung aller Israelis mit österreichischem Hintergrund - mit so viel Sympathie und Nostalgie für ihr Herkunftsland interessierte. Die öffentliche Meinung in Israel aber reflektierte ein ganz anderes Bild von Österreich.
Es war die Zeit, in der Bruno Kreisky dieses Bild prägte. Kreisky hatte durch seine Aussagen zu Menachem Begin speziell und zu Israel generell den Ruf erworben, dem Typus des "sich selbst hassenden Juden" zu entsprechen; oder, schlimmer noch, ein "jüdischer Antisemit" zu sein. Ich war überzeugt, dass diese Einstufung Kreiskys ganz einfach falsch war; dass es aber verständlich war, dass Kreiskys Positionen zum Nahost-Konflikt ihn zum Feindbild für viele Israelis machten.
Ich hatte ja auch meine Schwierigkeiten mit Israel. Wie für viele meiner Generation war Israel bis 1967 der bewunderte Underdog; der tapfere kleine Staat, der sich gegen eine Übermacht von Gegnern zu behaupten hatte. 1967 hatte sich das Bild gewandelt. Ich hatte zwar nichts mit dem nun auch innerhalb der Linken modisch gewordenen "Antizionismus" zu tun, aber die israelische Siedlungstätigkeit in den besetzten Gebieten hielt ich für einen Schritt in die falsche Richtung, weil sie einen endgültigen Friedensschluss erschweren musste.
1980 nahm ich mir ein Mietauto und fuhr von Tel Aviv aus nach Nablus, um von dort weiter in den Norden zu kommen - nach Tiberias, in das wundersame Städtchen Safed, nach Akko. Nablus war Ausdruck des Fehlens jeder politischen Perspektive in den besetzten Gebieten; Safed dokumentierte die nie unterbrochene jüdische Präsenz in Palästina; und Akko zeigte die Möglichkeit des Nebeneinanders (vielleicht auch Miteinanders) arabischer und jüdischer Israelis.
Als Israel 1982 militärisch weite Teile des Libanon besetzte und - offenbar mit Duldung der israelischen Armee - christliche Milizen in palästinensische Flüchtlingslager mordend einbrachen, war ich gerade in Libyen. Mit einer kleinen Gruppe von Politikwissenschaftlern und Journalistinnen und Journalisten aus Österreich war ich einer Einladung Muammar Gadhafis gefolgt, der - im Zusammenhang mit Kreiskys Nahostpolitik - ein besonderes Interesse an Österreich entwickelt hatte. Das Gespräch im legendären Wüstenzelt war eine der bizarrsten Erfahrungen, die ich machen konnte. Gadhafi erklärte uns die Welt und nahm natürlich Bezug auf den Libanon-Krieg: Er meinte, wenn "die Zionisten", nachdem sie schon zwei Weltkriege verschuldet hätten, nun daran gingen, einen dritten zu provozieren, so werde ihnen dies nicht gut bekommen.
Da war er, der nackte Antisemitismus - in seiner dümmsten Form: "die Zionisten", schuldig am Ersten und am Zweiten Weltkrieg. Primitiver hätte es Hitler bei seinen Tischgesprächen auch nicht ausdrücken können. Und auf einen Mann wie Gadhafi setzten europäische Politiker Hoffnungen?
Antizionistische Doppelmoral
Als einige Jahre später die (erste) Intifada losbrach, war dies ein Grund für mich, weitere Besuche in Israel hinauszuschieben. Ich wollte mich nicht mit einer Problematik belasten, die den Judenstaat und seine Politik in schlechtem Licht erscheinen ließ. Doch da half mir das Buch von Thomas Friedman, "From Beirut to Jerusalem" (New York 1989).
Friedman vertrat eine "realistische" Sicht auf Israel: Warum sollte man den Staat der Juden mit anderen Maßstäben messen als andere Staaten, insbesondere auch andere Staaten in der Region? Natürlich war die Siedlungspolitik in jeder Hinsicht problematisch, natürlich gab es viele gute Gründe, die Politik Israels zu kritisieren. Aber wie stand es mit der Politik Syriens, wie stand es mit den Menschenrechten in den Staaten, die im Rahmen der Arabischen Liga keine Chance verstreichen ließen, um über Israel herzufallen?
Selbstverständlich konnte und musste wohl auch das Verhalten der israelischen Truppen im Libanon kritisiert werden. Aber die Morde an den Palästinensern in den Lagern von Sabra und Shatila - die wurden nicht von Israelis, die wurden von christlichen Arabern begangen. Nur von der Verantwortung Israels, nicht aber von der Verantwortung der arabischen Seite zu sprechen - da wird die Israel-Kritik "antizionistisch", und zwar in einer Form, die eigentlich antijüdisch und damit antisemitisch zu nennen ist.
Das Verhalten von Juden wird an besonderen Maßstäben gemessen. Der Mord an Arabern und Muslimen ist nur dann Anlass für moralische Empörung, wenn er Juden (oder Amerikanern) zugeschrieben werden kann - und nicht, wenn die Täter die Uniform der syrischen Armee oder libanesischer Milizen tragen.
Diese Art der "antizionistischen" Doppelmoral lernte ich kennen, als ich 1992 im Zuge einer Studienreise Israel wieder besuchte. Die Organisation der Reise war fest in der Hand einer bestimmten palästinensischen Gruppe, die - in Verbindung mit israelischen Trotzkisten - vor allem Propaganda für das machen wollte, was sie die "palästinensische Sache" nannte. In Nazareth, der Stadt Israels mit einer arabischen Mehrheit, besuchten wir ein Büro einer Menschenrechtsorganisation. In diesem Büro hing ein Bild Gamal Abdel Nassers, des ägyptischen Diktators, des Vorgängers von Anwar Sadat.
Ich fragte den Büroleiter, warum denn in seinem Büro, das doch den Menschenrechten gewidmet sei, ausgerechnet das Bild eines die Menschenrechte unterdrückenden Diktators hinge. Der Mann schien mein Anliegen nicht richtig zu verstehen: Er lachte nur. Offenbar glaubte er, sich mit mir - augenzwinkernd - verständigen zu können: Es sei doch klar, dass man mitten in Israel Menschenrechte sagte und die Zerstörung Israels meinte.
Wie für alle Freunde und Bekannte war für mich der Handschlag zwischen Rabin und Arafat im September 1993 vor dem Weißen Haus in Washington so etwas wie ein Wunder. Das Oslo-Abkommen schien tatsächlich der Durchbruch zu einem Frieden, an den zu glauben ich kaum noch gewagt hatte. Doch ein weiterer Besuch in Israel, im Frühjahr 1995, machte mich skeptisch. Dass ein Vertreter der Likud-Opposition Oslo für einen Fehler hielt, überraschte mich nicht. Doch ein Gespräch mit drei palästinensischen Intellektuellen in Nablus überraschte mich. Von diesen identifizierte sich keiner mit Oslo. Einer von ihnen, der - wohl kein Zufall - einen Abschluss einer US-Universität hatte, lehnte prinzipiell jedes Arrangement mit Israel ab.
Mein Einwand, damit würde er doch zumindest einer Generation von Palästinensern jede Hoffnung auf eine bessere Zukunft rauben, wischte er weg: Er wünsche sich nicht, dass seine Kinder an ihr eigenes Wohlergehen dächten. Es ginge um mehr. Und das könne ich, geprägt von einer anderen Wertordnung, eben nicht verstehen.
Als am 11. September 2001 die beiden Türme des World Trade Centers zusammenbrachen, dachte ich an diesen Palästinenser. Und daran, dass ein Friedensschluss mit einem solchen Feind nicht möglich ist - weil dieser daran überhaupt kein Interesse hat.
Im Dezember 2002 war ich für mehrere Vorträge an der Hebräischen Universität Jerusalem. Mein Gastgeber, Robert Wistrich, zeigte mir die Cafeteria, die wenige Monate davor von einem Palästinenser in die Luft gesprengt worden war. Die Opfer waren vor allem amerikanische Studentinnen und Studenten, die Sommerkurse in Jerusalem besuchten. Für Wistrich war das Alltag: Israel lebt nicht im Frieden.
Der "Rechtsruck", der 2009 in Israel eine nicht oder kaum kompromissbereite Regierung an die Macht brachte, ist auch das Produkt der Politik der anderen Seite. Als Ariel Sharon den Gaza-Streifen und unter erheblichen innenpolitischen Kosten die dortigen israelischen Siedlungen räumte, wurde diese Geste nicht belohnt, sondern bestraft. Dass bald nach der Räumung aus dem Gaza-Streifen regelmäßig Raketen auf israelisches Gebiet gefeuert wurden, sollte offenkundig eine israelische Verhärtung provozieren. Wie schon im Libanon, 2006, so war auch der militärische Schlag gegen Hamas in Gaza eine erstaunlich hilflose Antwort einer offenkundig ratlos gewordenen israelischen Politik.
Die israelische Verhärtung - von Hisbollah, von Hamas, von anderen gewünscht - ist mit der Wahl und der Regierungsbildung 2009 eingetreten. Die Gegner des Oslo-Abkommens und der Zwei-Staaten-Lösung auf beiden Seiten spielen einander in die Hände. Doch noch immer zeigen alle Befunde der öffentlichen Meinung in Israel, dass das Land zu einer weitgehenden Aufgabe der Siedlungen bereit wäre, dass eine Zwei-Staaten-Lösung mit einer näher zu definierenden Hauptstadtpräsenz Palästinas in Ost-Jerusalem auf Zustimmung stieße - wenn, ja wenn nur auf der anderen, der palästinensischen Seite ein glaubwürdiger, Sicherheit vermittelnder Partner wäre. Wenn für die palästinensische Seite ein neuer Anwar Sadat agierte - Israel hätte sicherlich einen zweiten Menachem Begin.
Opfermonopol der Palästinenser
Was mich zornig macht, das ist die Einseitigkeit eines gewissen Friedensengagements auch und gerade in Österreich. Die moralische Empörung richtet sich immer gegen Israel. Den 1948 vertriebenen und geflohenen Palästinensern wird eine Art Opfermonopol konzediert. Dass 1948 die arabische Seite alle Juden aus Ost-Jerusalem, aus Hebron und anderen Teilen des Jordanien zufallenden Teils des britischen Mandatsgebiets vertrieben hat, wird nicht in Rechnung gestellt. Das palästinensische Opfernarrativ wird uneingeschränkt akzeptiert - das israelische nicht, zumindest nicht das, das sich auf die Zeit nach dem Holocaust bezieht.
Das israelische Opfernarrativ gründet natürlich zuallererst auf dem Holocaust. Ohne den europäischen Antisemitismus hätte es keinen politisch relevanten Zionismus gegeben. Und ohne den Holocaust ist die Gründung des Staates Israel nur schwer vorstellbar. Eben deshalb sind die konsequentesten Gegner Israels diejenigen, die den Holocaust leugnen.
Als John Mearsheimer und Stephen Walt die deutsche Ausgabe ihres Buches "The Israel Lobby and U. S. Foreign Policy" (New York 2007) in Wien vorstellten, diskutierte ich mit ihnen bei einer öffentlichen Veranstaltung. Ich hielt ihnen unter anderem vor, dass ihre - legitime und natürlich nicht antisemitische - Kritik das Phänomen Antisemitismus vernachlässigte. Daraufhin distanzierten sich die beiden wieder einmal vom Judenhass. Aber das war gar nicht mein Punkt. Mein Punkt war, zur Diskussion zu stellen, welche Funktion ihr Buch für den antisemitischen Diskurs hätte.
Im Publikum war John Gudenus, der frühere FPÖ-Mandatar und Leugner des Holocaust. Dass er deutlich zeigte, wo seine Sympathien lagen - das war es, worauf ich aufmerksam machen wollte.