Danny Leder, Paris
Antijüdisches Fanal in Pariser Vorstadt
Die Trabantenstadt Sarcelles, das sogenannte "Klein-Jerusalem" vor Paris, wurde Schauplatz von Ausschreitungen nach einer pro-palästinensischen Demonstration. Schon eine Woche zuvor war es am Rande einer Demonstration in der Pariser Innenstadt zu Angriffsversuchen auf zwei Synagogen gekommen.
Bis Sonntag, 20. Juli, konnte man den Führungspersönlichkeiten der organisierten, propalästinensischen Solidaritätsbewegung in Frankreich meistens zugute halten, dass sie antijüdische Übergriffe effektiv verhindern wollten. Etwa jene, zu denen es am Rande ihrer ersten Groß-Demonstrationen in Paris (etwa 15.000 Teilnehmer) eine Woche zuvor, am Samstag, den 12. Juli, gekommen war. Damals waren einige hundert Demonstranten ausgeschert, um zwei Synagogen anzugreifen. Vor einer der ersten Synagogen scheiterten sie an einem Polizeikordon. Bei der zweiten Synagoge, in der sich zu diesem Zeitpunkt zahlreiche Gläubige versammelt hatten, kam es zu einem kurzen Zusammenstoß mit jüdischen Jugendlichen. Dann schritt auch dort die Polizei ein und riegelte die Straße ab.
Aber am Sonntag, den 20. Juli wurde eine Palästina-Kundgebung ausgerechnet und ausschließlich in Sarcelles angesetzt. Das ist unter den hunderten Gemeinden des volkstümlichen, nördlichen Pariser Vorortegürtels jene Trabantenstadt, in der die meisten Jüdinnen und Juden leben. Seit den 1960er Jahren hatten sich dort und in der Nachbarstadt Garges, in mehreren Wellen, Jüdinnen/Juden aus Tunesien und Algerien angesiedelt, und eine bis heute sichtbare Gemeindestruktur aus Synagogen, Kindergärten, Sozialzentren, koscheren Imbiss-Stuben und Lebensmittel-Läden errichtet. Das hatte Sarcelles bei den französischen Jüdinnen und Juden den Ruf eines "Klein-Jerusalem" eingebracht.
Berücksichtigt man die aufgeladene Stimmung unter einem Teil der muslimischen Jugend und die Bereitschaft zum Aufruhr bei einem Teil der jungen Vorstädter, waren die Exzesse in Sarcelles am Sonntag daher quasi vorprogrammiert: kaum war die – von den Behörden verbotene, aber schließlich tolerierte – eigentliche Kundgebung beendet, stürmten einige hundert Teilnehmer in Richtung der nächst gelegenen, größten Synagoge. Von der Polizei abgedrängt, verwüsteten sie Ämter und Läden, darunter ein Bistro, in dem christliche EinwandererInnen aus dem Irak und der Türkei ("Chaldo-Assyrer") verkehren, und einen koscheren Supermarkt. Dieses Geschäft war bereits 2012 zum Ziel eines missglückten Sprengstoff-Anschlags geworden. Die Täter, eine Dschihadistenzelle, konnten später ausgeforscht werden.
"Psychologische Erschütterung"
"Schlimmer als die Verwüstungen ist die psychologische Erschütterung", sagt der sozialistische Bürgermeister von Sarcelles, Charles Pupponi: "Es ist der Schock über den Hass der Jugendlichen aus einigen Vierteln, der von Manipulierern angeheizt wurde, indem sie die Synagoge zur Zielscheibe erklärten." Tatsächlich waren Jugendliche und Halbwüchsige aus umliegenden Bauten auf die Straße gerannt, um sich dem unter ihren Fenstern vorbeilaufenden Pulk der Angreifer (die aus dem gesamten Vorortegürtel nach Sarcelles gekommen waren) anzuschließen. Dabei galt Sarcelles bisher als ein halbwegs funktionierendes Beispiel von gegenseitiger Akzeptanz zwischen arabisch- und afrikanisch-stämmigen Muslimen, Jüdinnen/Juden, christlichen IrakerInnen und Familien aus den französischen Karibikinseln.
Die sozialistische Staatsführung, die die zweite Solidaritätsdemonstration für die PalästinenserInnen in Paris am Samstag, den 19. Juli, verbieten ließ (sie fand trotzdem anfänglich statt und mündete ebenfalls in Ausschreitungen), sieht in den Vorfällen von Sarcelles eine Bestätigung ihrer punktuellen Verbotsstrategie. Nach heftigen Diskussionen in der Öffentlichkeit und innerhalb der SP über den Sinn solcher Verbote, entschloss sich das Präsidentenamt aber, eine neuerliche pro-palästinensische Demonstration am Mittwoch, den 23. Juli in Paris versuchsweise zu genehmigen – allerdings unter besonders strengen Auflagen an die verantwortlichen Veranstalter aus den Reihen der etablierten Linksparteien (vor allem der KP) bezüglich des Demonstrations-Wegs, des Ordnerdiensts und dessen Kooperation mit den verstärkt einsatzbereiten Polizeikräften.
Ebenfalls am Sonntag, den 20.Juli, anlässlich einer Gedenkzeremonie für die Großrazzia unter den Pariser Juden 1942 (unter der NS-Besatzung und dem Kollaborationsregime), warnte Premierminister Manuel Valls: "Wir dürfen die neue Form des Antisemitismus nicht leugnen, die sich unter einer Jugend ohne Anhaltspunkte und Geschichtskenntnisse entwickelt und hinter einer Fassade des Anti-Zionismus verbirgt." In eindringlichen Erklärungen, die von sämtlichen TV-Sendern übertragen wurden, unterstrichen sowohl Valls als auch Staatspräsident Francois Hollande neuerlich ihre Entschlossenheit, "jede Äußerung von Antisemitismus und Rassismus" zu unterbinden.
Am 21. Juli versammelte Präsident Hollande Spitzenvertreter aller Religionsgemeinschaften zu einer Krisensitzung im Elysée-Palast. Danach traten namentlich der Vorsitzende des jüdischen Kultusrats, Joel Mergui, und der Rektor der Pariser Großmoschee, Dalil Boubakeur, Seite an Seite, vor die TV-Kameras. Der Auftritt der beiden Notabeln wirkte aber wie eine ziemlich hilflose Pflichtübung. Mergui schien das Wort an sich reißen und nicht mehr hergeben zu wollen. Der wesentlich ältere und gebrechliche Boubakeur (er musste von einem Begleiter gestützt werden) konnte sich erst Gehör verschaffen, als ihn Journalisten direkt ansprachen. Der nach Worten ringende muslimische Würdenträger betonte sinngemäß die Notwendigkeit, das "gute Zusammenleben" durch den inter-religiösen Dialog zu stärken. Das Verständnis dafür müsse unter den Muslimen gefördert werden. Boubakeur, der einen besonders verständnisvollen Umgang mit jüdischen Persönlichkeiten pflegt, hat freilich unter den jüngeren Generationen der Muslime nur mehr geringen Einfluss.
Zermürbende Anpöbelungen und Anschlagsdrohungen
Die französischen Jüdinnen und Juden zweifeln im Allgemeinen nicht an den Solidaritäts-Beteuerungen der meisten Spitzenpolitiker, sie ermessen aber deren relative Hilflosigkeit. Zermürbend wirken vor allem die Anpöbelungen, Drohungen und Tätlichkeiten, denen Jüdinnen und Juden in volkstümlichen Vierteln immer wieder ausgesetzt sind. Auf Grund der Einwanderung aus Nordafrika ist Frankreich das Land mit den meisten Jüdinnen/Juden Europas (rund eine halbe Million, Zahl abnehmend) und Muslimen (rund sechs Millionen, Zahl ansteigend). Beide Gruppen leben teilweise noch Tür an Tür. Wobei die antijüdischen Übergriffe fast ausschließlich von Jugendlichen aus muslimischen Familien oder solchen, die kürzlich zum Islam konvertiert sind, verübt werden.
Die Jüdinnen/Juden registrieren auch eine zusätzliche Steigerungsstufe auf der Gefahrenskala, seit klar geworden ist, dass es zwischen diesen gelegentlichen Peinigern aus der näheren oder weiteren Umgebung und dschihadistischen Attentätern Querverbindungen und wechselseitige Einflussnahme geben kann. Das gilt vor allem seit dem Überfall von Mohammed Merah auf eine jüdische Schule in Toulouse im März 2012. Der Franko-Algerier Merah, der in Frankreich aufgewachsen war, und später zur "Al Kaida" stieß, erschoss in Toulouse drei Kinder und einen Lehrer aus nächster Nähe. (In den Tagen zuvor hatte Merah zwei Soldaten getötet. Nach den Morden in der jüdischen Schule wurde er von der Polizei in einer Wohnung gestellt und kam nach einer längeren Belagerung bei einem Feuergefecht ums Leben.) Als Reaktion auf diese Morde gab es zwar einen nationalen Schulterschluss in Frankreich: der damalige Wahlkampf legte eine Pause ein, während der sich sämtliche Spitzenpolitiker zu einer Trauerkundgebung versammelten. An allen Schulen Frankreichs wurden Bedenk-Stunden anberaumt. Aber in der Folge kam es zu einem deutlichen Anstieg der Drohungen und Handgreiflichkeiten gegen Juden, so als hätte Merah eine Art Beispielwirkung ausgeübt.
"Sündenböcke einer zerfallenden Welt"
Bei den Tätern handelt sich zwar um eine Minderheit, die von muslimischen Würdenträgern verurteilt und bekämpft wird. Aber diese bedrohliche Minderheit, die vielfach an der Schnittstelle zwischen Kriminalität und religiösem Radikalismus steht, dürfte gerade in Frankreich auf absehbare Zeit zunehmen: nähren sich diese Strömungen doch auch aus den Folgen der hohen Jugendarbeitslosigkeit (23 Prozent im Landesschnitt und etwa doppelt so hoch in den Krisenvierteln der Vorstädte). "Identitätsprobleme, Wirtschaftskrise – man kann immer Begründungen für Hass finden", sagt die Vorsitzende der jüdischen Institutionen im Raum Marseille, Michèle Teboul: "Aber wir sind nicht bereit, einer zerfallenden Welt als Sündenböcke zur Verfügung zu stehen."