Libanonkrieg Sommer 2006: Diskursvergleich unter Studierenden Jerusalem - Wien
Der Krieg im Libanon zwischen Israel und der Hezbollah bestimmte über einen Monat die Schlagzeilen der Medien aus aller Welt. Täglich wurde über neue Ereignisse aus dem Krisengebiet im Nahen Osten berichtet. Man las regelmäßig über israelische Luftschläge, bei denen eine Vielzahl libanesischer ZivilistInnen verletzt oder getötet wurde, als auch über hunderte Raketen der Hezbollah, die in Nordisrael einschlugen, Häuser zerstörten und israelische ZivilistInnen verletzten oder töteten. Es war die Asymmetrie des Krieges, durch das Abzählen und Vergleichen der Opferzahlen auf beiden Seiten veranschaulicht (es kamen während der Kämpfe laut Statistik zehnmal so viele libanesische wie israelische ZivilistInnen um), die im Laufe des Krieges von den Medien deutlichst hervorgehoben wurde.
Es waren diese nackten Zahlen und daraus gezogene (zu simple) Schlussfolgerungen, die den Diskurs der meisten meiner DiskussionspartnerInnen in Österreich bestimmten, als ich, während der Krieg noch im vollen Gange war, am 29. Juni meinen Sommerkurs an der Hebräischen Universität von Jerusalem beendete und nach Wien heimkehrte. Gleich am ersten Abend traf ich mich mit mehreren StudienkollegInnen und FreundInnen, bei denen das Interesse an meiner Erfahrung im Krisengebiet natürlich groß war. Umso überraschender war es daher festzustellen, dass unsere Diskussionen über die Nahostkrise in gänzlich anderen Bahnen verliefen, als dies in Jerusalem mit überwiegend israelischen und amerikanischen StudienkollegInnen der Fall war. Ich hatte zwar mit starker Kritik an der israelischen Kriegsführung gerechnet, doch waren Herangehensweise, Wahrnehmung und Umgang mit einzelnen Ereignissen des Krieges als auch dessen Legitimität als Ganzes so verschieden, dass ich manchmal das Gefühl bekam, man hätte in Österreich einen ganz anderen Krieg beobachtet. Dass ich der mehrheitlichen Verurteilung der Politik des "israelischen Aggressors" in dieser Form nicht zustimmte, hatte zur Folge, dass ich von den meisten meiner österreichischen DiskussionspartnerInnen zunehmend damit attackiert wurde, wie ich angeblich vorsätzliche Angriffe auf unschuldige ZivilistInnen bzw. die Grausamkeiten des israelischen Militärs, die Unverhältnismäßigkeit der israelischen Reaktion auf die Angriffe der Hezbollah und die behauptete vorsätzliche Tötung von vier UNO-Soldaten, darunter ein Österreicher, verteidigen könne.
In Jerusalem bestimmten, von den ersten Provokationen der Hezbollah durch einzelne Katjuscharaketen und den Entführungen von israelischen Grenzposten auf nordisraelischem Gebiet bis zur Großoffensive der Israel Defense Force tief im südlibanesischen Landesinneren, mehrheitlich Überlegungen über die weitere politische und militärische Vorgehensweise Israels die meisten Kontroversen. Was genau wurde mit der Tötung und Entführung von israelischen Grenzsoldaten bezweckt und wie ist darauf zu reagieren? Gibt es eine Chance, die Geiseln zu befreien und wenn ja wie? Bis zu welchem Punkt sind Verhandlungen mit der Hezbollah sinnvoll, ab wann handelt es sich nur noch um bloße Zeitverschwendung, wobei jede verschwendete Minute die Überlebenschancen der jungen israelischen Soldaten in den Händen der Hezbollah zu verringern schien.
Auch der historische Kontext wurde in den Gesprächen in Israel auf andere Art berücksichtigt. Während sich Debatten über die Geschichte Israels hier in Österreich traurigerweise, auch in StudentInnenkreisen, oft auf die Staatsgründung und demzufolge das Existenzrecht Israels beschränkten (um so die Entstehung und Unterstützung von islamistischen Terrororganisationen in der Bevölkerung moralisch zu legitimieren), wurden in Israel Entstehung und Ausmaß des islamistischen Antisemitismus unter anderem mit den Einflüssen des deutschen Nationalsozialismus auf Ägypten und Palästina zu erklären versucht. Auch die Geschichte des Libanon, dessen bilaterale Beziehungen mit Israel als auch die politischen Ziele Syriens und des Iran schienen in Österreich im Vergleich weit weniger Aufmerksamkeit zu erhalten und eine eher untergeordnete Rolle zu spielen als in Israel. Als Kriegsauslöser machte eine Vielzahl meiner DiskussionspartnerInnen an der Universität in Jerusalem die fehlgeschlagene Umsetzung der UN-Resolution 1559 verantwortlich, bei der schon 2004 beschlossen wurde, dass die paramilitärische Hezbollah-Miliz entwaffnet werden müsse, um eine Destabilisierung der gesamten Region und eine kriegerische Auseinandersetzung zu verhindern.
Der Diskursverlauf über die Kriegsführung selbst unterschied sich in Wien und Jerusalem enorm. Die hohen zivilen Opferzahlen auf libanesischer Seite wurden im israelischen Diskurs damit erklärt, dass libanesische ZivilistInnen von der Hezbollah als menschliche Schutzschilder verwendet würden und bei einem Krieg gegen eine in Zivil kämpfende Terrormiliz, deren Kämpfer sich absichtlich nur schwer von der normalen Bevölkerung unterscheiden lassen, eine humanitäre Katastrophe nur schwer zu verhindern ist.
Die Verurteilung der Strategie seitens der Hezbollah, die möglichst viele Zivilopfer provozieren wollte, blieb in Österreich weitestgehend aus. Stattdessen wurde eine absolut rücksichtslose, inhumane und rachsüchtige Vorgangsweise der israelischen Armee als Ursache der hohen zivilen Verluste ausgemacht, wobei es hier wichtig sein sollte zu erkennen, dass sich diese Erklärungsmuster oft antisemitischer und religiös-antijüdischer Stereotype bedienen. Die absichtliche Tötung von libanesischen ZivilistInnen, so war man sich einig, diente einerseits reiner Vergeltungssucht und sollte andererseits die Zivilbevölkerung gegen die Hezbollah aufhetzen. Hierbei wurde betont, dass diese inhumane Strategie schon bei "den Amerikanern" nicht funktioniert hätte und man mit dieser Methode die Unterstützung der LibanesInnen für die Hezbollah nur vergrößern würde. Diese Überzeugung war ganz offensichtlich durch die meiner Meinung nach zu einseitige Medienberichterstattung in Österreich geprägt worden, bei der man das Gefühl bekam, dass die Presseagenturen nach der nächsten Meldung über den Tod unschuldiger ZivilistInnen lechzten, um sich entsprechend über die israelische Politik echauffieren zu können.
Auch die Debatten über den Tod der UNO-Soldaten unterschieden sich völlig. Die ersten kritischen Fragen in Israel, wie so etwas bei einem so modernen Militär passieren kann, wurden schnell von der Empörung über den Vorwurf des UN-Generalsekretärs Kofi Annan überlagert, die Tötung wäre reine Absicht gewesen. Dabei ist es meiner Meinung nach besonders interessant, dass ein absichtliches Töten der UNO-Soldaten nicht nur in Österreich, sondern auch auf höchster Ebene der UNO vom ersten Moment an angenommen wurde, obwohl, und das ist der ausschlaggebende Grund, jegliche Untersuchung über den Vorfall fehlte.
Die in Israel vorherrschende Angst, die ganze Welt gegen sich zu haben, wurde mit diesem Krieg in den Augen der Israelis bestätigt und verstärkt. Man fühlt sich als Opfer andauernder Angriffe, sieht im Mittleren Osten keine Verbündeten, nur Feinde, lediglich die USA wähnt man an seiner Seite. Doch gerade die europäischen Staaten, insbesondere Deutschland und Österreich als auch die ehemaligen Kolonialmächte Großbritannien und Frankreich hätten die Pflicht, alles in ihrer Macht stehende zu versuchen, um Stabilität und Frieden im Mittleren Osten zu erreichen und Israels Sicherheit zu garantieren. Doch wird auf der gesellschaftlichen Ebene viel Geschichtsaufarbeitung seitens der EuropäerInnen und auf der makropolitischen Ebene eine generelle Strukturreform der Vereinten Nationen vonnöten sein, um weitere Versagen der Internationalen Gemeinschaft im Mittleren Osten zu verhindern.
In der Aufarbeitung sehe ich auch einen der Hauptgründe für die großen Differenzen bei der Betrachtung des Israel-Libanon-Krieges. In Österreich scheint die Meinung vorzuherrschen, dass man die "Fehlannahmen" und Verbrechen des "Dritten Reiches" überwunden habe und sich nun der Zukunft zuwenden müsse, während unter die Vergangenheit endlich ein Schlussstrich gezogen werden müsse. Leider ist diese auf Verdrängung basierende Wahrnehmung in Österreich sehr populär, weshalb es nie zu einer ausreichend gründlichen Auseinandersetzung mit dem Phänomen Antisemitismus und Judenhass in der breiten Gesellschaft gekommen ist. Jemand, der glaubt, die Gründe für Antisemitismus in unserer Gesellschaft seien mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges verschwunden, interpretiert jeden genaueren Rückblick und Verweis auf die Verbrechen der ÖsterreicherInnen und Deutschen unter dem Nationalsozialismus als ungerechtfertigte Brandmarkung und Schuldzuweisung einer doch unschuldigen Generation. Unter diesen Umständen ist es natürlich schwer, über Antisemitismus wirksam aufzuklären, was zur Folge hat, dass er gar nicht erst erkannt wird. Das Ergebnis einer solchen Entwicklung lässt sich im Standard nachlesen, der im Juni 2006 eine Statistik veröffentlichte, nach der fast jeder zweite Österreicher/jede zweite Österreicherin teilweise konkreten antisemitischen Stereotypen zustimmt (z. B.: "Juden haben weltweit zu viel Macht"). Anhand solcher Zahlen dürfte es nachvollziehbar sein, dass antisemitische Stereotype auf die österreichische Medienlandschaft einen nicht zu unterschätzenden Einfluss haben.
16.01.07 (erste Fassung vom 30.08.2006)
Lars Dietrich studiert Politikwissenschaft an der Uni Wien