Maximilian Gottschlich

Antisemitismus: Die dreifache Bedrohung

Der Kampf gegen den virulenten islamischen Antisemitismus deckt die antisemitische Immunschwäche europäischer Mehrheitsgesellschaften auf

Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Autors und der Tageszeitung Der Standard, Erstveröffentlichung am 27. 8. 2020 in: Der Standard (Kommentar der anderen)


Die Anschläge auf die Grazer Synagoge und die Attacke gegen den Präsidenten der kleinen jüdischen Gemeinde erinnern schmerzlich daran, was Hannah Arendt über den Antisemitismus schrieb, nämlich: "Antisemitismus ist genau das, was er vorgibt: eine tödliche Gefahr für Juden und sonst nichts." Deswegen sind auch jüdische Einrichtungen und Synagogen schwer bewacht. Dort, wo das nicht oder nur ungenügend der Fall ist oder war – wie etwa in Halle (Saale) im Oktober 2019 oder auch jetzt in Graz –, setzt man Juden leichtfertig und unverantwortlicherweise dieser tödlichen Gefahr aus.

Europas Juden haben es heute mit einer dreifachen Bedrohung zu tun. Da ist zum einen der tradierte christliche Antisemitismus, der sich nicht deswegen schon auflöste, weil sich der religiöse Glaube in Europa verflüchtigte und innerweltlichen Heilsorientierungen Platz machte. Der religiöse Glaube ging, aber der durch zwei Jahrtausende hindurch praktizierte Antijudaismus blieb in den kollektiven Tiefenschichten europäischer Gesellschaften fest verankert. Dagegen vermochte auch die seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil betriebene Annäherung der katholischen Kirche an das Judentum nichts zu ändern.

Die mit dem Konzilsdekret Nostra Aetate (1965) offiziell vollzogene Kehrtwende von einer Theologie der Verachtung des Judentums hin zur Betonung eines neuen familiären Verhältnisses von Judentum und Christentum hat jedenfalls nicht gegen den wachsenden Antisemitismus in der (nach)christlichen Gesellschaft immunisieren können. Immerhin machen heute noch 14 Prozent der Österreicher die Juden für den Tod Jesu verantwortlich. Das ist nur eines der beunruhigenden Ergebnisse, die in einer von der Parlamentsdirektion 2018 in Auftrag gegebenen empirischen Repräsentativ-Studie über antisemitische Vorurteile in Österreich zutage gefördert wurden.

Zweite Front

An einer zweiten Front finden sich Juden in der Diaspora einem sich radikalisierenden Antizionismus und Antiisraelismus ausgesetzt, der in mehr oder minder starker Ausprägung in allen politischen Lagern vertreten ist. Jeder dritte Österreicher stimmt der Aussage zu "Die Israelis verhalten sich gegenüber den Palästinensern genauso wie die Nazis gegenüber den Juden". Antisemitische Israelkritik verfolgt immer ein doppeltes Ziel: erstens die Täter-Opfer-Umkehr und zweitens die Delegitimation des jüdischen Staates. Wenn es gelingt, die Opfer und ihre Nachkommen zu Tätern zu machen, dann lässt sich in der perversen Vorstellungswelt der Antisemiten die behauptete oder fantasierte Schuld des jüdischen Staates gegen die historische Schuld der Nazis gegenrechnen. Seht nur, sagt der Antisemit, die Opfer und ihre Nachkommen sind nicht besser als die Täter von damals.

Dieser Antisemitismus der Schuldumkehr dient immer auch der psychischen Entlastung der Tätergesellschaften von historischer Schuld, die – solange sie unbearbeitet bleibt – als schwere psychische Hypothek von einer Generation an die nächste weitergegeben wird. Der Antisemitismus der Schuldumkehr ist aber auch ein anhaltender Versuch der Delegitimierung des jüdischen Staates durch seine Diffamierung und Dämonisierung. Das geschieht dadurch, dass die antisemitische Israelkritik darauf abzielt, die Shoah und die Opfergeschichte des europäischen Judentums, die letztlich zur Gründung des jüdischen Staates Israel führten, systematisch durch eine Tätergeschichte, die sich aus dem Nahostkonflikt speist, zu ersetzen.

Damit kommt die dritte Front in den Blick, der sich die Juden in Europa, aber auch anderswo in der Welt, gegenübersehen: der importierte, kulturell und religiös tief verwurzelte islamische Judenhass. Nimmt man alle drei antisemitischen Bedrohungsszenarien ernst, dann ergibt dies eine explosive Mischung antijüdischer Obsessionen.

Gemeinsames Feindbild

Europäische Mehrheitsgesellschaften und Migranten aus der Türkei und arabischen Herkunftsländern haben ein gemeinsames Feindbild: den jüdischen Staat. Israel ist der "kollektive Jude", der an allem Übel in der Welt Schuld trägt. Der Aussage "Wenn es den Staat Israel nicht mehr gibt, dann herrscht Friede im Nahen Osten" stimmen elf Prozent der österreichischen Bevölkerung zu, aber 76 Prozent der Arabisch sprechenden und 51 Prozent der Türkisch sprechenden (nicht repräsentativ) Befragten.

Im Kampf gegen den Antisemitismus stellt sich Europa ein doppeltes Problem: die Virulenz des zum Teil gewaltbereiten islamischen Antijudaismus und die Latenz eines in kollektiven Tiefenschichten verankerten europäischen Antisemitismus. In Österreich gibt es, so zeigen die empirischen Befunde seit vielen Jahren, zehn Prozent manifeste Antisemiten und etwa 30 Prozent latente Antisemiten. Das ist keine gute Ausgangssituation, um es mit dem sich radikalisierenden Antisemitismus aufzunehmen. Um den importierten islamischen Antisemitismus glaubhaft und nachhaltig bekämpfen zu können, müssten sich die europäischen Mehrheitsgesellschaften selbst ihrer antisemitischen Immunschwäche stellen. (Maximilian Gottschlich, 27.8.2020)


Maximilian Gottschlich war Professor für Kommunikationswissenschaft der Uni Wien. Zum Thema Antisemitismus erschienen von ihm die Bücher "Die große Abneigung. Wie antisemitisch ist Österreich?" sowie "Unerlöste Schatten. Die Christen und der neue Antisemitismus".


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