Wolfgang Neugebauer

Israelkritik als neuer Antisemitismus?

(veröffentlicht in: Schalom. Zeitschrift der Österreichisch-Israelischen Gesellschaft, Nr. 3/4, Oktober 2003, S. 28-30)

"Natürlich ist die Erinnerung an den Holocaust überhaupt kein Grund, Kritik an der Palästinenser-Politik der Israelis zu unterlassen, gerade, wenn man ein Freund Israels ist. Es kommt allerdings darauf an, in welchem Geist man es tut. Wenn ich Leute sagen höre: 'Die Palästinenser sind die Juden von heute', dann ist das, bei allem Respekt vor dem Leid der Palästinenser, außerhalb jeder Proportion. Es sind eben nicht Millionen Palästinenser ihrer Rasse wegen umgebracht worden, schon gar nicht von den Israelis. Deshalb ist es unerträglich, wenn jemand sagt: 'Die Israelis benehmen sich gegenüber den Palästinensern wie die Deutschen gegenüber den Juden.' Das hat nichts mit berechtigter Kritik zu tun, das ist versteckter Antisemitismus."
(Ella Lingens, Gefangene der Angst. Ein Leben im Zeichen des Widerstandes)

Die Verfolgung der Juden durch das NS-Regime (und damit der Antisemitismus als wesentliche Triebkraft bzw. als ein in die Gegenwart weiterwirkendes Relikt) ist ein wichtiges Forschungsfeld des DÖW, bei dem sich immer wieder Kontakte auch zu Israel - sowohl zu ForscherInnen als auch zu Überlebenden des Holocaust - ergeben. Da es mir bei meiner Tätigkeit im DÖW nicht nur um wissenschaftliche Erkenntnisse, theoretische Analysen etc. geht, sondern auch um praktische Konsequenzen, d. h. in diesem Fall um die Bekämpfung von Antisemitismus, bin ich schon vor einigen Jahren - auf Initiative von Univ. Prof. Dr. Erika Weinzierl - in der Aktion gegen den Antisemitismus aktiv geworden. Auch meine Zugehörigkeit zur Österreichisch-Israelischen Gesellschaft, deren Tätigkeit mir im vierzigsten Jahr ihrer Existenz wichtiger denn je erscheint, resultiert letztlich aus dieser Einstellung.

Für mich sind der Zionismus und die Gründung Israels Ergebnis weit in die Geschichte zurückreichender Diskriminierungen und Verfolgungen der Jüdinnen und Juden und im Besonderen der Shoah; für mich ist Israel der Staat, der den Flüchtlingen vor Antisemitismus und Judenverfolgung in Europa und im arabischen Raum eine sichere Heimat geboten hat, nicht zuletzt ist es auch das Land von aus Österreich Vertriebenen und Überlebenden des Holocaust, zu denen wir vielfältige Verbindungen haben. Daher ist Israel nicht ein x-beliebiger Staat, sondern ein Staat, dem gegenüber die Deutschen und ÖsterreicherInnen aufgrund historischer Implikationen besondere Verpflichtungen haben. Wenn der deutsche Bundeskanzler Schröder im Bundestag feststellte: "Der Holocaust verbindet uns unauflöslich mit Israel", so gilt dies auch für Österreich. Die Mittäterschaft vieler Österreicher an den NS-Verbrechen, die Nutznießerschaft von noch mehr ÖsterreicherInnen an Vertreibung und "Arisierung", die Ignoranz und Passivität der Mehrheit der Bevölkerung gegenüber dem Leid der Verfolgten, denen nur wenige halfen, bedingen bis heute eine politisch-moralische Verpflichtung für Österreich - nicht in Form einer Erbschuld eines jeden Einzelnen, sondern in dem Sinne, dass wir uns den Belastungen unserer Geschichte stellen, uns der Opfer und deren Leides erinnern, den Ursachen und Rahmenbedingungen dieser in der Geschichte beispiellosen Verbrechen nachgehen und im Übrigen alles tun, um Antisemitismus, Rassismus und Intoleranz in unserer Gesellschaft entgegenzuwirken. Antisemitismus und Feindschaft gegen die Überlebenden des Holocaust bzw. deren Duldung und verschleierte Formen dürfen in Österreich keinen Platz haben.

Leider hat der Antisemitismus - ungeachtet der geringen Zahl der österreichischen Jüdinnen und Juden - keineswegs seinen hohen Stellenwert verloren; er ist weiterhin nicht nur in der Bevölkerung verbreitet, sondern auch wesentlicher Bestandteil rechtsextremer Ideologie und Propaganda. Der Antisemitismus ist eine reale Gefahr sowohl für ein tolerantes, demokratisches Klima als auch für die Sicherheit von Menschen in unserem Land. Dazu kommen neue Bedrohungen, die sich aus dem Auftreten militanter arabischer und fundamental-islamischer Gruppen in Österreich und deren Zusammenwirken mit rechts- und linksextremen Kräften ergeben. Diese neue arabisch-islamische Israelfeindlichkeit richtet sich nicht nur gegen die israelische Politik und den Staat Israel, sie arbeitet auch mit eindeutig antisemitischen Stereotypen und bedroht alle Jüdinnen und Juden - ob in Israel oder sonstwo auf der Welt. Insbesondere in Europa ist es zu einer beängstigenden Zunahme antisemitischer Übergriffe gekommen.

Ein Musterbeispiel für diese neue Aktionseinheit rechts- und linksextremer Israelfeinde und militanter arabischer Kräfte unter dem Banner des "Antizionismus" ist die Antiimperialistische Koordination (AIK), auf deren Aktivitäten in einem auf der Homepage des DÖW veröffentlichten Beitrag der Aktion gegen den Antisemitismus ausführlich eingegangen wird.

Die AIK wirkt u. a. mit dem Internationalen Palästinakomitee zusammen, bei dessen Demonstration im Dezember 2001 eine Broschüre verteilt wurde, in der offen der Holocaust relativiert und Sympathie gegenüber neonazistischen Geschichtsfälschern gezeigt wurde. Im Juni 2003 solidarisierte sich die AIK mit dem verhafteten jordanischen Universitätsprofessor Dr. Ibrahim Alloush, einem Mitarbeiter der sattsam bekannten holocaustleugnenden, neonazistischen Vierteljahreshefte für freie Geschichtsforschung. Alloush schrieb dort u. a.: "Die revisionistischen Historiker nutzen die exakten Wissenschaften wie Physik und Chemie, um nachzuweisen, dass die so genannten Gaskammern nicht zur systematischen Tötung von Juden benutzt wurden. Allerdings wurden Krematorien benutzt um die Leichen verschiedener Nationalitäten zu beseitigen, um Seuchen vorzubeugen. Ein Krematorium ist freilich etwas ganz anderes als eine Gaskammer. Wissenschaftliche Beweise weisen darauf hin, dass es die Letzteren niemals gab." Selbst diese eindeutig neonazistische Aussage wird von der AIK gerechtfertigt: Da die "Araber [...] für den Holocaust" nicht verantwortlich seien, dürfen sie ihn auch in Abrede stellen - so die krude Logik dieser österreichischen "Antiimperialisten". Zu dem Artikel zur AIK erhielt ich zwei Stellungnahmen, von John Bunzl und von 66, zum Großteil sich selbst der KPÖ zurechnenden Personen. Darin wurde dem DÖW und mir unterstellt, jede Israel-Kritik als Antisemitismus zu qualifizieren. Mit keinem Wort wurde darin auf die konkreten Vorwürfe gegen die AIK und deren Bundesgenossen, die sich auf Veranstaltungen, Reden, Transparente und Publikationen bezogen, eingegangen.

Wenn auch jeder Linke mit Entrüstung den Antisemitismusvorwurf von sich weist und quasi eine natürliche Immunität postuliert, so sind eine linke Position, eine sozialdemokratische, kommunistische oder antifaschistische Einstellung oder eine Vergangenheit als Widerstandskämpfer oder Verfolgter noch keine Garantie für Freisein von Antisemitismus. In mehreren seriösen Publikationen (u. a. von Margit Reiter, Thomas Haury, Martin W. Kloke, Micha Brumlik) wird das Thema Antisemitismus von links behandelt, und es gibt unzählige historische Beispiele für antisemitische Aussagen und Haltungen von einzelnen Repräsentanten der Linken bzw. war die Politik der so genannten realsozialistischen Staaten immer wieder durch antisemitische Propaganda und Handlungen, kaschiert als "Antizionismus", bis hin zu repressiven Exzessen charakterisiert. In unserer Zeit sind einst linke Galionsfiguren wie Roger Garaudy, Theoretiker des Eurokommunismus, und Horst Mahler, Protagonist der APO und Anwalt der RAF, offen ins Lager des Rechtsextremismus und Antisemitismus übergegangen.

Der Antisemitismus hat über die traditionellen Vorurteile und Stereotypen hinaus neue Formen entwickelt, bei denen eine Verquickung von Feindbildern stattfindet: Juden im eigenen Land, Juden in Israel, Juden in den USA ("Ostküste") werden zum "Weltjudentum", zur "jüdischen Lobby", zur "Holocaust-Industrie" hochstilisiert. Eine gängige These des "Revisionismus", also der Holocaustleugnung und -verharmlosung, lautet: die "6-Millionen-Lüge" dient dazu, dass die Juden/Israel Deutschland (und Österreich) auf ewig erpressen können. Eine Erweiterung des Feindbildes Israel ergab sich im Zuge der Zuspitzung des Irakkonfliktes, indem die US-Juden/Israel für die Politik des US-Präsidenten Bush verantwortlich gemacht werden. So sprach der FPÖ-Europaabgeordnete Hans Kronberger von der "Umwandlung des gesamten Vorderen und Mittleren Orient in ein amerikanisch-israelisches Protektorat" (Zur Zeit 7-8/2003) und berief sich dabei auf den so genannten "Wolfowitz-Plan", war aber nicht in der Lage, in seiner Gegendarstellung an das DÖW den Beweis für diese Behauptung aufzustellen und diesen angeblichen Plan des stellvertretenden US-Verteidigungsministers vorzulegen. (Siehe dazu: Hans Kronberger und der "Tiefpunkt journalistischer Manipulation")

Die Eskalation der Gewalt in Israel / Palästina durch Terror und militärische Aktionen hat in der europäischen Öffentlichkeit vielfach zu einseitiger Parteinahme geführt. Radikale Israel-Feindschaft ist heute nicht nur bei rechten und linken Extremisten zu finden, sondern auch bei demokratischen Linken, die sich mit den Schwächeren in diesem Konflikt, den Palästinensern, solidarisieren. Eine gnadenlose Ablehnung des Zionismus und des jüdischen Staates findet sich etwa bei Andrea Komlosy (Die Presse, 27. 7. 2002): Israel sei ein von den Großmächten instrumentalisierter "Brückenkopf", "ein geopolitisches Instrument für die politische, wirtschaftliche und militärische Kontrolle von Westasien, Nordostafrika und der Golfregion", ein Fremdkörper, der auch durch den Holocaust keine Daseinsberechtigung bekomme. Allen Ernstes wird der Plan des deutschen Philosophen Wolfgang Harich von 1970, die Juden "beiderseits der ohnehin entvölkerten Zonengrenze" (zwischen BRD und DDR) anzusiedeln, aus der Versenkung geholt und Israel in die Nähe von Nazimethoden gerückt ("Hitlers ethnische Neuordnungspläne nahmen posthum Gestalt an"). Für mich ist es besonders schmerzlich, dass auch europäische und österreichische Sozialdemokraten Israel in zunehmendem Maße negativ gegenüber stehen. So haben Sozialdemokraten im Europäischen Parlament (mit)verhindert, dass der schwere Vorwurf (u. a. in "Die Zeit", Dossier, 6. 6. 2002), dass Hilfsmittel der EU an die palästinensische Autonomiebehörde von Arafat zu Terrorzwecken weitergeleitet worden seien, in einem Untersuchungsausschuss geklärt wird. Die Kritik richtet sich primär gegen Politik und Person von Ministerpräsidenten Sharon, der aus sozialdemokratischer Sicht viele Angriffsflächen bietet und als rechtsextrem abqualifiziert wird. Letztlich beeinträchtigt aber eine einseitige, den Terror und die Gewalt der anderen Seite vernachlässigende oder relativierende Kritik die fundamentalen Interessen Israels. Das Kalkül der palästinensischen Seite besteht ja darin - und deswegen wurden die Friedensbemühungen des US-Präsidenten Clinton und des israelischen Ministerpräsidenten Barak zunichte gemacht -, Israel durch Terror zu immer härteren Gegenmaßnahmen zu provozieren, um die Weltöffentlichkeit gegen Israel aufzubringen, Israel zu isolieren und zu ächten, um sodann Sanktionen und ein militärisches Eingreifen der UNO zu bewirken. Diese Politik ist zwar angesichts der Dominanz der USA im Nahen Osten illusionär, doch wirken politische Kräfte in Europa durch einseitige Unterstützung der Palästinenser in diese Richtung.

Meine Anführung von rechts- und linksextremen, militant arabischen, freiheitlichen und sozialdemokratischen Israel-Kritikern dient nicht dem Zweck, alle als Antisemiten in einen Topf zu werfen. Im Gegenteil, mir geht es um Differenzierung und Klarstellung. Im Interesse einer präzisen und fairen Diskussion scheint es mir sinnvoll zu sein, die Grenze zwischen berechtigter oder zulässiger Kritik an Israel und Antisemitismus und dessen Spielformen im Gewand des Antizionismus zu ziehen zu versuchen.

Dr. Ella Lingens, eine "Gerechte der Völker", die unter Einsatz ihres Lebens verfolgten Juden geholfen hat und deswegen nach Auschwitz kam, hat in großer Klarheit die Grenze der Israelkritik aufgezeigt: "Es kommt ... darauf an, in welchem Geist man es tut."


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